Das Computerspiel Always Sometimes Monsters gewinnt seit Veröffentlichung stetig an Bekanntheit. Dan hat sich des Spiels bereits angenommen und es auf seine Besonderheiten hin rezensiert. Trotz simpler Grafik und Steuerung berichtet jeder von einem überaus persönlichen Spielerlebnis. Ich schließe mich da nicht aus. Doch wie geschieht das? Sind es die großen Entscheidungen, die den Spielverlauf drastisch verändern? Oder ist es nicht schon eine Entscheidung, einmal mehr nach unten zu gehen als nach rechts? Ein Blick auf das Leveldesign soll uns helfen, dem Kernprinzip Entscheidung auf die Spur zu kommen.
Die Suche nach einem geeigneten Abschnitt bringt mich irgendwo in den Mittelteil der Geschichte: Mein Protagonist – Anton getauft – muss Geld anhäufen, um seine Reise fortsetzen zu können. Ich finde mich in einer Umladestation wieder, der miesgelaunte Vorarbeiter berichtet von einem Streik. So ein Glück, dass ich heute in Streikbrecherlaune bin!
Er erklärt, dass ich Kisten vom Fließband in einen Lastwagen räumen soll. Klingt einfach genug, dass ich es schaffen könnte. Also mache ich mich ans Werk. Schon bei der siebten Kiste wird mir aber langweilig, Anton kommentiert die Situation entsprechend. Mir wird die Option nahegelegt, zu gehen. Das Geld, im Übrigen viel zu wenig für einen ganzen Arbeitstag, habe ich schließlich schon im Voraus bekommen.
Doch da kommt Onkel Ehrgeiz von der Seite angeschlichen und packt mich an der Schulter. Kaum hörbar flüstert er mir ins Ohr: Was wohl passiert, wenn du immer weiter machst? Dann setzt die Trance ein. Nach kurzer Zeit merke ich, dass Anton nicht mehr durch meine Eingaben gesteuert wird. Es scheint fast so, als laufe er voran, während ich seine Bewegungen lediglich protokolliere. Stets reflektierend hat Anton jedoch irgendwann keine Kommentare mehr für mich übrig. Sein letzter Tipp: Mit etwas Konzentration kann man sich da schon durchbeißen. Motivation pur!
Der feine Herr Vorarbeiter steht plötzlich begutachtend in der Ecke und die Situation wird mit jeder Kiste anspruchsvoller. Bei einem Zyklus von Fließband – Lastwagen – Fließband vergehen rund 17 Sekunden, die optimiert werden wollen. Welcher Weg wohl der kürzere ist? Wie viele Schritte kann ich pro Durchlauf sparen? Ich nehme die Architektur des Levels gedanklich auseinander und laufe jedes Mal einen anderen Weg. Rechts, unten, rechts, oben, rechts, unten, rechts – und wieder zurück. Mal zähle ich, wie viele Schritte meine Figur braucht oder wie oft ich verschiedene Tasten drücken muss.
Die Entwickler machen es einem aber auch nicht leicht. Kommt man vom Fließband, kann man in Richtung Parkbereich zunächst nur nach rechts, da unten ein Tisch im Weg steht. Da man jedoch gleich auf eine Treppe stößt, ist danach ein Schritt nach unten nicht zu vermeiden. Natürlich kann man aber auch von dort aus nicht durchgehend nach rechts laufen, drei diabolisch angeordnete Regale verhindern dies. Und auch die Ladeöffnung des Lastwagens steht in einer Reihe mit dem mittleren Regal und kann deshalb nur durch erneuten Tastenwechsel erreicht werden. Touché, liebes Team von Vagabond Dog. Ihr habt eine Levelarchitektur geschaffen, die es mir nicht erlaubt, diese monotone Aufgabe beiläufig zu erledigen.
Nach ausführlichen Kalkulationen, die durchaus noch einigen Reiz in sich trugen, beginnt eine Phase, in der ich den Sinn meiner Aktion hinterfrage. Auf dem Fließband folgt eine Kiste der anderen, es scheint kein Ende in Sicht. Sitze ich spät heute Abend immer noch vor dem PC und lagere Kisten in einen Lastwagen um? Wird der herüberschielende Vorarbeiter dann immer noch dort rumstehen, anstatt mir zu helfen? Ehrlich gesagt, macht mir auch die Anzeige vor dem Lastwagenparkplatz Sorgen. (siehe Titelbild) Diese hat nur zwei Stellen und könnte so ja gar nicht über die 99 hinausgehen…
Ist das also jetzt mein Ziel? Oh, ein Ziel wäre schön!
67, 68, 69 und 70, es geht voran. Ich ertappe mich dabei, die vor sich hin brummende Musik mitzupfeifen. Auf dem Fließband kommen unentwegt neue Kisten nach. 83, 84 und 85. Ich bemerke einen Schraubenzieher auf dem Boden, nehme ihn jedoch lieber nicht mit. An der Wand hängen ein Feuerlöscher und zwei Überwachungskameras. Ich frage mich, wozu Herr Piekfein Vorarbeiter die beiden braucht, wenn er mich doch eh die ganze Zeit anstarrt.
96, 97, 98 und…
Als ich Kiste 99 in Empfang nehme, bleibe ich voller Erfurcht vor dem Fließband stehen. Meine Hände werden schwitzig. Langsam schleicht eine weitere Kiste vom leeren, schwarzen Bildschirmrand auf mich zu und ich begreife, was gerade geschieht. Prüfend trage ich noch vier weitere Kisten zum Lastwagen. Ein verzweifelter Versuch, das Fließband mittels Hebel anzuhalten, scheitert: The switch is jammed!
Etwas verdutzt suche ich nach Anerkennung für meine Arbeit und spreche mit dem Vorarbeiter, der mir vorhält, dass es noch Kisten zu tragen gibt. Ich entscheide mich aufzuhören und bekomme zur Belohnung einen zynischen Kommentar von Herrn Sonstwietoll, er würde doppelt so viele Kisten in der Zeit schaffen. Zuletzt frage ich mich, ob der Lastwagen vielleicht ein Wurmloch beherbergt, in das die vielen Kisten verschwinden.
Was sagt uns das nun? Zusammengefasst habe ich eine spielerische Herausforderung angenommen, die mir ohne ein klares Ziel vorgesetzt wurde. Ich trug über 100 Kisten von einem Fließband zu einem Lastwagen, während eine Anzeige der einzige Hinweis meiner erbrachten Arbeit war. All das war meine Entscheidung. Die Entscheidung, nicht den Raum zu verlassen, bevor ich eine bestimmte Anzahl an Kisten umgeräumt hatte. Und das nur, weil ich auf eine Belohnung hoffte. Ist das nun Spiel oder Arbeit?
Eine berechtigte Frage, denn Parallelen zur Arbeitswelt sind auch im Kontext ansonsten sehr gesellschaftskritischer Aussagen des Spiels offensichtlich. Zunächst wird hier monotone Arbeit abgebildet, die jegliches Belohnungsgefühl in sich ausschließt. Fehlende Anerkennung ist auch ein bekanntes Problem, sowie Unterbezahlung.
Vielmehr sind es aber die Designentscheidungen, die uns ein Gefühl für diese Arbeit vermitteln sollen. Es gibt kein endgültiges Ziel, somit kann die Aufgabe scheinbar nicht erfüllt werden. Es gibt keine direkte Belohnung, weder in Form von Geld noch Lob. Gleichzeitig sollen die Spieler selbst entscheiden, ob und wann sie aufhören möchten – eine Art Prüfung der Arbeitsmoral. Und über alledem ist die Levelarchitektur zwischen Fließband und Lastwagen so gestaltet, dass Spieler niemals ganz abschalten können, weil sie sonst noch länger für die Aufgabe brauchen. Wem das nun gar nicht bekannt vorkommt, darf sich glücklich schätzen.
Always Sometimes Monsters entführt uns in eine Welt, die manchmal ganz und gar keinen Spaß macht. Und genau das ist der Punkt. Das Spiel baut über Auswahl und Entscheidungen auch im Detail eine besondere Identifikation zwischen Spieler und Spielfigur auf. So wird jede Entscheidung eine persönliche Hand- habung der Situation, deren Konsequenzen man tragen muss, die aber vor allem auch immer ein Stück von uns, den Spielern, in den gesellschaftlichen Kontext des Spiels setzt.
Ich habe mich entschlossen, weiter zu arbeiten. Zurück gab mir das Spiel ein Gefühl, das ich auch aus meinem Alltag kenne. Jede noch so kleine Designentscheidung in diesem Abschnitt hat dazu beigetragen, meine Identifikation mit der Figur zu vertiefen, und etwas mehr über mich selbst zu lernen: Über Hoffnung und Enttäuschung. Über Moral und Sühne. Über Aufgeben und Weitermachen. Vor allem aber zeigt Always Sometimes Monsters, dass die Geschichte eines Spiels selten nur in offensichtlichen Filmsequenzen, Entscheidungen oder Dialogtexten liegt, sondern vielmehr über die gesamte Palette an strukturellen, audiovisuellen und interaktiven Inhalten vermittelt wird. Und ein Element dieser Palette ist das Leveldesign.