Digitale Kulissen und die Problematik der ludonarrativen Grenzmarkierung

Eine erweiterte Version dieses Artikels wurde am 06. März 2019 im ffk-Journal veröffentlicht.

Nach den in den letzten Wochen erschienenen Beiträgen zum Thema Worldbuilding, u.a. Grundlagen, Environmental Storytelling und Embedded Narratives, soll sich folgender Text – anschließend an den kürzlich erschienenen Artikel von Alex zum Thema Manipulierbarkeit von Objekten – mit digitalen Kulissen und ludonarrativen Grenzmarkierungen befassen.

Worldbuilding ist – unabhängig vom Medium – immer fragmentarisch und unvollständig. Die narrativ vermittelte Diegese muss sich jedoch den spezifischen Medieneigenschaften anpassen, um der Illusion einer überzeugenden Welt gerecht zu werden. In klassischen Printmedien wird ein Großteil des Worldbuildings dem Rezipienten überlassen, der einen beschreibenden Text seiner eigenen Vorstellung entsprechend diegetisiert.¹ Bildmedien unterstützen diesen Prozess durch vorgefertigte Diegetisierungshilfen, die dem Rezipienten mentale Arbeit abnehmen und die freigewordenen Ressourcen zur Erfassung und Bewunderung des Gesehenen zur Verfügung stellen.

Seit jedoch der Platon‛sche Höhlenmensch in Baudrys Kinodispositiv² nicht mehr nur gefesselt und unbeweglich in seinem Sessel sitzt, sondern mittels Game-Controller interaktiv auf die ihn unterhaltenden Schattenspieler reagiert, stößt das Worldbuilding mehr und mehr an seine Grenzen. An allen Diegese-Ecken quietscht und knarzt es, während sowohl Entwickler als auch Publisher darum bemüht sind, die bedrohlich wackelnden digitalen Kulissen durch Nebelkerzen wie „überarbeitetes Gameplay“, „realistische Grafik“ und „riesige, frei begehbare Welt“ notdürftig zu tarnen. Dabei ist gerade letzteres bzw. der Punkt „frei begehbar“ das eigentliche Problem: Was nützt die schönste Kulisse, wenn der Rezipient dazu in der Lage ist, sie zu durchschauen, zu hintergehen oder gar umzuwerfen?

Ludonarrative Gratwanderungen

Eine ‚überzeugende‛ Räumlichkeit wird im Film vor allem in ihrer Abwesenheit sichtbar bzw. wenn plötzliche Ereignisse in der Diegese die artifizielle Natur des Mediums aufzeigen, z.B. wackelnde Filmkulissen, ins Bild hängende Mikrofone oder sichtbare Filmtechniker. Filme wie „Plan 9 From Outer Space“ (1959) gelten aufgrund ihrer unzähligen Filmfehler als Paradebeispiele für fehlgeschlagene immersive Räumlichkeit. Dabei besitzt gerade das Medium Film in Sachen Raumvermittlung zwei unschätzbare Vorteile gegenüber dem digitalen Spiel:

1) Zur Vermittlung räumlicher Eindrücke kann auf jegliche real bereits existierende Räumlichkeit zurückgegriffen werden, während diese im digitalen Spiel von Grund auf neu erschaffen bzw. programmiert und implementiert werden muss. Es ist einfacher, einen beliebigen Ozean zu filmen als einen künstlichen Ozean mittels Algorithmen zu erschaffen.

2) Im Film ist die Cadrage durch die Kameraperspektive festgelegt und unveränderlich, wohingegen der Rezipient im digitalen Spiel – gesegnet mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Homer Simpson in einer Universitätsvorlesung – zu jedem (unpassenden) Zeitpunkt jegliche ihm zugängliche Winkel der Diegese erkunden kann.

Die soeben angesprochenen Vorteile mögen sich nun darauf beschränken, dass ein Kunstwerk nur dann ein Kunstwerk ist, solange der Rezipient nicht hinter die Kulissen schaut und dessen Zauber enttarnt. Daraus resultiert, dass Spielentwickler ihre Werke dahingehend optimieren müssen, dass eine ausreichende Illusion von Freiheit gewährleistet wird, obwohl die Handlungsspielräume der Spieler nur sehr knapp bemessen sind – alles zugunsten der obersten Direktive: Gewährleistung einer kohärenten Diegese, die die Spieler nicht durch plötzliche Brüche (oder Spielfehler) aus dem Flow herausreißt.

Eine der grundlegendsten Überprüfungen, die der Spieler durch seinen Avatar vornehmen kann, ist die Auslotung der eigenen digitalen Grenzen: Wo bin ich hier? Wie weit darf ich gehen? Was hindert mich daran, weiterzugehen und warum kann ich es nicht? Zumeist bildet die digitale Architektur hier – in Form von urbanen Bauwerken oder natürlichen Hindernissen wie Bergen oder Gewässern – die Grenze des Spielfeldes, die der Spieler bereitwillig akzeptiert.

FPS Map Design, Quelle: Reddit

Blickt man auf die Evolution digitaler Räumlichkeit in 3D-Spielen, wird gerne folgendes Reddit-Bild bemüht, was – ironisch zugespitzt – einen Level aus Doom (1993) mit denen eines beliebigen aktuelleren 3D-Shooters vergleicht. Die Kernaussage dieser Grafik wirft einen wehmütigen, retronostalgischen Blick auf die ausgefeilte Levelarchitektur von damals™ und kritisiert im gleichen Zug die beliebige Austauschbarkeit von niedrigschwelligen ‚Schlauchleveln‛, die im Prinzip nur das zweidimensionale Einbahnstraßen-Prinzip früher Jump‛n‛Runs nachbilden. Jean-Paul LeBreton hat das Level-Design von Doom sehr treffend analysiert und einen interessanten Zusammenhang aufgezeigt (Hervorhebungen von mir):

[Doom] Level designers didn’t have to worry about whether a change made something look less like a hangar or a barracks, just whether it was better for gameplay. This was especially critical for a style of game that was just finding its feet in 1993. As the march of technology has allowed ever-higher graphical fidelity, virtually every FPS since Doom has attempted greater and greater representationalism with its environments. While games like System Shock began to show that a real sense of place can be a huge draw in itself, designers of such games will always have to manage the tension between compelling fiction and optimal function, unless you are willing to go all out and have the kind of weird, abstract spaces Doom has.³

Architektonische Unzulänglichkeiten

Dieses Spannungsfeld von Fiktion und Funktion ist der kritische Punkt, mit dem sich Spieldesigner zunehmend auseinandersetzen müssen, da dieser durch die oftmals schlecht vernähten Kulissen allzu offensichtlich wird. Insbesondere, da sich Schlauchlevel heutzutage lediglich rhizomatisch verkleiden, um die Spieler zu überlisten: Warum kann ich nur durch diese oder jene Tür gehen, nicht aber durch die diversen anderen Türen auf meinem Weg, die mir seltsamerweise verschlossen bleiben? Und warum bleiben sie weiterhin verschlossen, auch wenn ich sie mit meiner M-16, Handgranaten oder einem alles verwüstenden Drachenschrei bearbeite? Und, schließlich: Was erwarte ich dahinter zu finden?

Ähnliches gilt für Türen, durch die man zwar gehen soll, für die man aber keinen Schlüssel hat – auch wenn diese aufgrund ihrer porösen Materialität aussehen, als könnte man sie bereits durch eine leichte Berührung zu Staub zerfallen lassen. Der durch langjährige Konventionen trainierte Spieler mag über diesen Umstand hinwegsehen, da er das Spiel primär auf der ludischen Ebene rezipiert – narrativ bleibt das Gesehene dennoch fraglich. Diese daraus resultierende Spannung zwischen ludischer und narrativer Ebene ist somit ein fernes, aber nicht abklingen wollendes Echo des Streits zwischen Ludologen und Narratologen, der hier auf architektonischer Ebene fortgeführt wird und seinen Höhepunkt darin findet, dass Designer und Programmierer sich innerhalb eines Spiels über die Fehler des jeweils anderen echauffieren und dies sogar als diegetisches Element implementieren.

Eine unbefriedigende Darstellung spielerischer Grenzen stellt hingegen eine ‚unsichtbare Wand‛ dar, die die Spieler nicht durchbrechen können. Umso schlimmer, wenn – wie in Fallout 3 (2008) – die Diegese dahinter deutlich sichtbar und (scheinbar) problemlos erreichbar scheint.

Dem Spieler wird diese räumliche Kategorie bewusst, sobald er an deren Grenzen stößt. Diese Grenzen sind aber nicht als solche ausgewiesen, sondern bleiben für den Spieler unsichtbar und suggerieren eine Grenzenlosigkeit und Weitläufigkeit innerhalb des Programms. Jene Grenzenlosigkeit ist zwar visuell gegeben – im Programmcode befindet sich aber eine unsichtbare Mauer, an der die Spielfigur abprallt, ‚als wär’s eine echte‘.

Schwieriger wird es, wenn die vom Spiel festgelegten Grenzen dennoch überschritten werden, sei es aufgrund eines Softwarefehlers oder eines bisher unentdeckten Zugangs bzw. Exploits. Wo es im Film immer noch die Kulissen bzw. die reale Welt oder zumindest Mitglieder des Filmteams zu sehen gibt, existiert im digitalen Spiel zumeist nichts – oder zumindest eine äußerst unansehnliche Grafikdarstellung, die nie für die Augen der Spieler gedacht war. Diese Situation wird in The Stanley Parable (2013) adressiert, wenn der Spieler sich fortwährend den Anweisungen des Erzählers widersetzt.

In seltenen Fällen machen sich die Entwickler die Mühe, auch digitale Hinterbühnen zu erschaffen und thematisieren somit die Durchbrechung der vierten Wand, wie dies im Spiel Gothic 2 (2002) zu sehen ist: Nachdem der Spieler mittels präziser Steuerungseingaben einen scheinbar unüberwindbaren Wall erklommen hat, erwartet ihn dahinter mitnichten die angekündigte Ork-Armee – sondern ein Schild, welches ihn darauf hinweist, dass er das Ende der Welt erreicht habe:

Ok man, you made it behind the great orc wall…
as you see, the story of the orcish hordes behind this wall, is a complete fake
there is nothing more to find here..this place is abandoned, it’s the end of the world.
But me (a mighty alien dwarf, which not depends to this game story, and which name is not of public interest here!) wanted to warn you. You’ve been tricked to believe a story, wich is not true. (they want to get you!)
Do not believe anything they say. Keep your eyes open!
The mighty alien dwarf

Diese direkte Adressierung des Rezipienten und die selbstreflexiven Verweise auf eine „game story“ sowie „the end of the world“ stellen somit deutliche Indikatoren für die Schnittstelle zwischen ludischem und narrativem Raum dar und lösen die Problematik durch die Erschaffung eines Easter Eggs. Die Problematik der konkurrierenden Räume wurde hier durch die Nutzung eines hybriden Elements umgangen. Das Schild mit der Aufschrift fügt sich innerdiegetisch kohärent in die Spielwelt ein, wohingegen der Text den Spieler adressiert und das dahinterstehende Dispositiv auf einer extradiegetischen Ebene dekonstruiert.

Daher ist dieses Beispiel auf mehreren Ebenen hervorzuheben: Einerseits, weil an dieser Nahtstelle zwischen ludischem und narrativem Raum ein Blick hinter die Kulissen ermöglicht wird – vergleichbar mit dem Moment im Film, wenn der Rezipient die Künstlichkeit der filmischen Welt durchschaut. Andererseits wird dadurch die Idee des Spielers, völlig alleine eine Armee zu konfrontieren, effektiv ad absurdum geführt – narrativ war es nicht vorgesehen, dass der Spieler diesen Bereich betritt, daher fällt an dieser Stelle die digitale Fassade, wodurch die Programmierer in Form des „mighty alien dwarf“ in die Diegese eingreifen müssen, um das Loch in der Logik zu schließen.

Die Gothic-Reihe zeigte sich generell im Umgang mit spielerischen Grenzen sehr kreativ und realisierte dies im ersten Teil auf narrativer Ebene, indem der Spieler in ein durch eine ‚magische Barriere‛ abgegrenztes Gefängnis geworfen wurde, die bei Berührung den unmittelbaren Tod des Avatars zur Folge hatte – und die Flucht aus dem Gefängnis somit das übergeordnete Ziel war.

Spielentwickler sehen sich daher derzeit mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, nicht nur hübsche digitale Welten zu erschaffen, sondern diese auch über ihren Status als schmückende, aber weitgehend zweckbefreite Kulisse hinauszuheben. Oder, um LeBreton zu bemühen: Fiktion und Funktion müssen ausbalanciert sein – was sich im Zeitalter der sich ständig überholenden Hardware-Neuerungen und dem damit einhergehenden, stetig zunehmenden grafischen Realismus als keine einfach zu lösende Aufgabe darstellt. Ähnlich wie in The Truman Show (1998) muss zu jeder Zeit die perfekte Illusion aufrecht erhalten werden, damit die Grenzen für die Rezipienten nicht wahrnehmbar werden. Dies könnte in letzter Konsequenz jedoch bedeuten, sich von althergebrachten ludischen Modellierungen lösen zu müssen, was sich wiederum auch auf die Architektur auswirkt: Denn wozu braucht man in digitalen Spielen Schlüssel für Türen, die man mit den gegebenen ludischen Mitteln ohne große Probleme aus dem Weg räumen könnte?

Letztlich wäre es dahingehend sicher zielführender, wenn sich digitale Kulissen den (u.a in Sachen Grafikleistung) ständig verändernden Medienspezifika anpassen würden, statt wie bisher, eher unreflektiert, die Kulissen nicht-interaktiver Bildmedien nachzubilden und darauf zu hoffen, dass der Spieler deren ludischen Nullwert nicht hinterfragt. Daher dürfte es äußerst spannend zu beobachten sein, wie sich dieser Aspekt in den kommenden Jahren weiterentwickelt.


1 Vgl. Hartmann, Britta: Aller Anfang. Zur Initialphase des Spielfilms. Marburg: Schüren 2009. S. 134 ff.

2 Baudry, Jean-Louis: „Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“, in: Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, Robert F. Riesinger (Hg.). Münster: Nodus Publikationen 2003.

3 LeBreton, Jean-Paul: Coelacanth – Lessons from Doom. 2010.

4 Rhetorische Frage: Wenn diese Türen so unzerstörbar sind, warum ist dann nicht meine Kevlarweste oder meine selbstgeschmiedete Rüstung aus diesem Material? Solche Kausalitätsketten, die die Logikbrüche in digitalen Spielen aufzeigen, erfreuen sich in der Community großer Beliebtheit und werden häufig in anderen Medien thematisiert und remediatisiert, vor allem in Form von Internet-Memes.

5 In Wolfenstein: The New Order (2014) markierten der Senior Environmental Artist Torbjörn Åhlen und der Senior Technical Level Designer Emil Gustavsson durch diegetische Graffiti („Why Emil?“, „Why Torbjörn?“) signifikante Stellen, an denen – ihrer Meinung nach – der jeweils andere seinen Job nur unzureichend erledigt hat. Vgl. Runzheimer, Bernhard: Die digitale Flanerie als reflexive Raumexploration im Computerspiel, in: ffk Journal. Dokumentation des 29. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums, (2) 2017. Hamburg: Avinus. S. 297 f.

6 Schwingeler, Stephan: Die Raummaschine. Raum und Perspektive im Computerspiel. Boizenburg: Hülsbusch 2008. S. 10-11.

7 Zur Fehlerterminologie im digitalen Spiel siehe Bojahr, Philipp: „Störungen des Computerspielens“, in: Theorien des Computerspiels zur Einführung, GameCoop (Hg.). Hamburg: Junius 2011.

 Vgl. Metz, Christian: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films. Münster: Nodus Publikationen 1997, S. 69 ff.

 An dieser Stelle ist ein diegetischer Sonderfall zu beobachten: Der Spieler weiß zwar um die Nichtexistenz besagter Armee, kann sein Wissen aber nicht mit den innerdiegetischen Figuren teilen. Das Easter Egg manifestiert sich somit deutlich außerhalb der Diegese.

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Über Bernhard Runzheimer

Bernhard Runzheimer (br) ist ausgebildeter Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung und arbeitete mehrere Jahre in diesem Beruf, bis er von existenziellen Sinnfragen an die Uni getrieben wurde. Von 2011 bis 2014 absolvierte er als Jahrgangsmethusalem den Bachelorstudiengang Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Obwohl er aufgrund seines fortgeschrittenen Alters die Vorlieben seiner Kommilitonen für Pokemon, Transformers-Filme und ausschweifende Partys nicht wirklich teilt, hat er sich trotzdem dafür entschieden, zusätzlich den M.A. Medien und kulturelle Praxis in Marburg zu studieren. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Digital Humanities der Philipps-Universität Marburg, ist Gründungsmitglied und ehemaliger Chefredakteur des studentischen Game Studies-Kolloquiums der Philipps-Universität Marburg sowie Autor/Admin bei pixeldiskurs.de.