Mit der Umgebung erzählen: Environmental Storytelling im digitalen Raum – Teil 1

Teil 1 des Artikels „Mit der Umgebung erzählen: Environmental Storytelling im digitalen Raum“ bietet eine thematische und begriffliche Einführung des gewählten Sujets anhand der Multiplayer-Ego-Shooter Counter-Strike (Valve, 2000) und Overwatch (Blizzard Entertainment, 2016). Dabei wird die unterschiedliche Gestaltung von digitalen Räumen sowie die damit verknüpfte Verwendung von Gegenständen und Merkmalen analysiert. Auf Basis dieser analytischen Beobachtungen, entstehen Deutungsmöglichkeiten der vorhandenen Gegenstände und Raumkonstellationen hinsichtlich der Narration der ausgewählten Spieletitel.


Funktionale und semantische Raumkonstellationen

Fußspuren an den Wänden, herumliegende Erdnussbuttergläser, mit Stühlen verbarrikadierte Türen und all das auf einer futuristischen Mondstation. Spieler_innen sehen sich während ihrer ludischen Erfahrung wie zum Beispiel in dem digitalen Spiel Overwatch mit komplexen Raumkonstruktionen konfrontiert, welche mit einer stetig größer werdenden Anzahl von Gegenständen gefüllt sind. Alles dank der rapide fortschreitenden technischen und technologischen Entwicklung des digitalen Spiels und den damit verbundenen Möglichkeiten der Raumberechnung und -gestaltung.

Genrevertreter des Multiplayer-Ego-Shooters der frühen 2000er Jahre, wie etwa Counter-Strike, stellen weitläufige Maps zu Verfügung, jedoch beinhalten deren Räume überwiegend funktionale Gegenstände wie Holzkisten, Metalltonnen oder Leitern. Diese Gegenstände fungieren primär als Deckungsmöglichkeiten für die Spielfiguren der Spieler_innen, um dem Beschuss durch feindlich gesinnte NPCs oder menschliche Gegenspieler_innen zu entgehen sowie zum Erreichen anderer Raumabschnitte, die durch eine erhöhte Positionierung, sogenannte Sniper Locations[1], einen strategischen Vorteil gegenüber des Feindes ermöglichen können. Diese Limitierung an Gegenständen im Raum ist nicht allein den technischen und technologischen Beschränkungen der Rechenleistung damaliger Computer oder Videospielkonsolen verschuldet, sondern kann der Sicherstellung einer barrierefreien Bewegungsmöglichkeit hinsichtlich der Spielfigur im digitalen Raum zugeschrieben werden. Gegenstände wie Kisten, Säulen oder Stühle können Räume authentisch wirken lassen, allerdings bei der Flucht von einem herannahenden Gegner zum Hindernis werden.

Zeitgenössische digitale Spiele hingegen operieren vermehrt mit einer Anreicherung des digitalen Raums durch diverse Gegenstände. Sie können intentional eingesetzt werden, um semantisch[2] aufgeladene Raumkonstellationen zu bilden, welche durch eine hermeneutische Deutung[3] der Spieler_innen eine Narration zugesprochen bekommen.[4] Diese „quasi-indexikalischen Zeichen“[5] fungieren als Grundlage für das Environmental Storytelling. Der Akademiker und Spieleentwickler Robert Yang illustriert diese Erzählweise durch die Umgebung in digitalen Spielen am Beispiel des Stuhls im Ego-Shooter Half-Life 2 (Valve Corporation, 2004). Yang greift in diesem Zusammenhang einen Entwicklerkommentar von Mike Dunkle auf, der zu damaliger Zeit an dem Ego-Shooter mitarbeitete:

We always look for opportunities to add narrative touches in our levels. The idea behind this chair, the submachine gun, and the beer bottles is that someone used to sit here, drink beer, and drop grenades into the pit of zombies. We give the player the opportunity to re-enact this experience by giving out unlimited grenades and spawning zombies as soon as the player reaches this spot.[6]

Der Stuhl und seine Geschichte in Half-Life 2

Dieses Vorgehen spricht dem Stuhl als digitalen Gegenstand eine semantische Aufladung zu, die als eine intradiegetische Narration innerhalb des jeweiligen Raumes, in dem sich die Spieler_innen befinden, wirken kann. Dabei sollte der Gegenstand (hier: der Stuhl) durch seine Erscheinung und Positionierung mit den restlichen Gegenständen des Raumes korrespondieren, um besagte Narration zu plausibilisieren. So können andere Gegenstände, wie die herumliegenden Bierflaschen, den Stuhl in seiner intradiegetischen narrativen Wirkung des bestehenden Raums unterstützen, die jedoch in diesem Fall off-screen stattgefunden haben muss.[7]

Solche Erzähleinheiten definiert der Medienwissenschaftler Henry Jenkins als „micronarratives“[8] mittels des Filmbeispiels Panzerkreuzer Potemkin (Броненосец Потёмкин, 1925) von Sergei Eisenstein und der darin enthaltenen „Odessa Steps Scene“.[9] Eisenstein verdeutlicht in dieser Szene den konfliktreichen Plot des Films durch eine Serie von kurzen Einzelerzählungen wie etwa die Situation des die Treppe herabfahrenden Kinderwagens. „Micronarratives“ formen vermutlich nicht den dramaturgischen Entwicklungsverlauf des Hauptplots eines Films oder digitalen Spiels. Nichtsdestotrotz können sie die emotionale Erfahrung der Spieler_innen beeinflussen.[10] Rückwirkend kann auf diese Weise ebenfalls die beschriebene Spielsituation aus Half-Life 2 den Begriff der „micronarratives“ für sich beanspruchen.

Anknüpfend an die bislang gemachten Erörterungen zum Environmental Storytelling besteht jedoch die Frage, wie die Spieler_innen solche intradiegetischen Erzähleinheiten in Erfahrung bringen können. Dementsprechend ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff der digitalen Flanerie zur Sichtung von erzählerisch-interpretierbaren Räumen und darin implementierten Gegenständen unabdingbar. Die digitale Flanerie ist eine Voraussetzung zur Erfahrbarmachung des Environmental Storytellings für die Spieler_innen, die sich mit ihrer Spielfigur im digitalen Raum bewegen. Im nächsten Abschnitt soll somit diese notwendige Beziehung zwischen der digitalen Flanerie und dem Environmental Storytelling weiter erläutert werden.


Die Bedeutsamkeit des digitalen Raums

Overwatch ist ein kompetitiv angelegter Multiplayer-Ego-Shooter in dem zwei sechsköpfige Teams auf verschiedenen Maps gegeneinander antreten. Das Spielziel in den jeweiligen Spielrunden (Matches) ist etwa die Einnahme oder Kontrolle strategischer Punkte sowie der Konvoi eines Transporters zu einem vorgegebenen Endpunkt. Beide Teams können währenddessen unter Einsatz von Waffen und dem damit verbundenen Beschuss des Gegenteams das dementsprechende Spielziel stören oder vorantreiben.

Hinsichtlich dieser Spielmodi und unter der Abwesenheit eines Story-Modus, lässt sich bereits erahnen, dass Overwatch lediglich über eine schwach ausgeprägte Intradiegese[11] verfügt. Zwar bieten einzelne Kurzbeschreibungen verschiedener kosmetischer Skins[12] pointierte Hintergrundinformationen zu den einzelnen Spielfiguren, jedoch reichen diese nicht aus, um von einer facettenreichen Narration sprechen zu können. Hierfür mag unter anderem das Spielegenre des Titels ausschlaggebend sein, denn durch den Fokus auf den Kompetitivgedanken ist ein ausufernder Plot nicht zwingend notwendig. Dies wird besonders im Vergleich mit dem genre-verwandten Counter-Strike deutlich. In dem Spiel treffen eine Gruppe von Terroristen und Anti-Terroristen auf verschiedenen Maps aufeinander, während die erste versucht erfolgreich einen C4-Sprengsatz auf einem von zwei ausgewiesenen Punkten zu platzieren. Die Gruppe der Anti-Terroristen versucht hingegen dieses Vorhaben zu stören oder letztendlich einen möglichen gelegten Sprengsatz zu entschärft. Dies beschreibt bereits die vollständige Diegese[13] von Counter-Strike und ist schlussendlich für die Erfahrung und die Interaktion mit dem Spiel vollkommen ausreichend.

Narrative Hintergrundinformationen zu der Spielfigur „Tracer“

Overwatch verfolgt zum Aufbau einer Diegese einen neuen Ansatz. Während Counter-Strike lediglich persönlichkeitslose Avatare aufweist, implementiert Overwatch diegetische Spielfiguren und Räume, die einen erzählerischen Rahmen bieten sowie zusätzlich den Spieler_innen die Möglichkeit offerieren, beide dieser Instanzen miteinander zu verknüpfen. Da die eigentlichen Spiel-Modi, wie bereits erwähnt, aufgrund ihrer Genrekonvention nur bedingt eine Narration innerhalb ihrer selbst gestatten, wird stattdessen eine komplexe übergeordnete Narration kreiert, welche durch transmediale[14] und semantisch aufgeladene Gegenstände und Eigenschaften der digitalen Räume reziproke Verweise herstellen, um eine kohärente Narration zu zeichnen. Die Bewegungsbereiche der Spieler_innen unter Verwendung der digitalen Flanerie sind dabei ausschlaggebend. Bei diesem Prozess zur Exploration des Raumes, können narrative Beziehungen zwischen den im Raum verteilten Zeichen und der transmedialen übergeordneten Narration rückgebunden werden.

Um diese narrative Wechselwirkung zwischen Transmedia und Environmental Storytelling greifbarer zu machen, soll der zweite Teil des Artikels exemplarisch den digitalen Raum der Map Mondkolonie Horizon bearbeiten. Mondkolonie Horizon verfügt über eine Fülle von Zeichen, die aufgrund ihrer Symbolhaftigkeit, eine eigene Geschichte erzählen und den Spieler_innen Hinweise auf vergangene Ereignisse geben. Zudem können diese Ereignisse in den Kontext der übergeordneten transmedialen Narrationen eingebunden werden.


[1] Sniper Locations sind meist erhöhte Rückzugsorte, die eine gute Verteidigungsposition ermöglichen, um von dieser feindliche Gegner mit Hilfe von Zielfernrohrwaffen unter Beschuss zu nehmen.

[2] Vgl. Semantik, die. Abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Semantik. Zugriff: 10. November 2017. Die Semantik (oder auch Bedeutungslehre) befasst sich mit der Theorie von der Bedeutung der Zeichen. In dem vorliegenden Artikel drücken sich semantische Zeichen in Gegenständen und sonstigen Merkmalen des digitalen Raumes aus.

[3] Vgl. Hermeneutik, die. Abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/HermeneutikDie. Zugriff: 10. November 2017. Hermeneutik beschreibt die Theorie der interpretativen Rezeption von Texten und des anschließenden Verstehens. Dabei wird auf Zeichen und Symbole zurückgegriffen.

[4] Vgl. Ascher, Franziska: „Die Narration der Dinge Teil II – Environmental Storytelling“. Paidia. Zeitschrift für Computerspielforschung. 2014. Abrufbar unter: http://www.paidia.de/?p=4027. Zugriff: 10. November 2017.

[5] Ebd. Der Begriff „quasi-indexikalische Zeichen” ist abgeleitet von dem Begriff der „indexikalischen Zeichen“ oder auch „hinweisende Zeichen“ bei denen eine semantische Relation zwischen einem Zeichen/Symbol und einer hinweisenden Aussage besteht. Auch nachzulesen unter: http://www.spektrum.de/lexikon/kartographie-geomatik/indexikalisches-zeichen/2325. Zugriff: 10. November 2017.

[6] Yang, Robert: „Consider the Chair“. Heterotopias, Nr. 2, Games + Architecture, 2017. S. 56.

[7] Vgl. ebd.

[8] Jenkins, Henry: „Game Design as Narrative Architecture”. First Person. New Media as Story, Performance, and Game, hg. von Noah Wardrip-Fruin; Pat Harrigan, The MIT Press 2004. S. 125.

[10] Vgl. Jenkins 2004. S. 125.

[11] Vgl. Intradiegetische Ebene. Abrufbar unter: http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/littheo/glossar/intradiegesis.html. Zugriff: 10. November 2017. Die Intradiegese beschreibt eine Erzählebene, die innerhalb einer fiktiven Welt liegt und somit die Ereignisse, der in ihr ‚lebenden‘ Figuren illustriert.

[12] Skins ermöglichen in digitalen Spielen kosmetische und dekorative Veränderungen der Spielfigur, ohne dabei Einfluss auf deren Attribute zu nehmen.

[13] Vgl. Diegese, die. Abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Diegese. Die Diegese ist eine weitläufige Erzählung und ein analytischer Begriff, der seinen Ursprung in der Erzähltheorie hat.

[14] Vgl. Jenkins, Henry. Convergence Culture: Where Old and New Media Collide. NYU Press, 2008. Transmediales Erzählen ist eine Strategie, einen narrativen Inhalt via verschiedene Medienformen zu erzählen.

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Über Nils Bernd Michael Weber

Nils Bernd Michael Weber schreibt und castet nun schon seit einiger Zeit für Pixeldiskurs.de. Ansonsten hat er eine Ausbildung zum Industriekaufmann absolviert, einen Bachelor in Medienwissenschaft abgeschlossen und studiert nun im Master "Medien und kulturelle Praxis" an der Philipps-Universität Marburg. Er behauptet von sich selbst Ästhetiker, Feminist und Kulturkritiker zu sein. Ersteres lebt er in Maßen auf seinem Pinterest-Account aus.