Behinderung in Dwarf Fortress – Mit Äxten, Krücken und Willenskraft zu Ruhm und Reichtümern

„‚Tis but a scratch!“ – So wird der Schwarze Ritter aus Monty Python and the Holy Grail im offiziellen Dwarf Fortress-Wiki zitiert, wenn es um Verletzungen geht, die sich mein Avatar im Verlauf des ‚Adventure Mode‘ zuziehen kann. Und davon kann es reichliche und in großer Variation geben. Eines der Merkmale, die Dwarf Fortress auszeichnen und zu seinem Ruf als komplexe Weltsimulation beitragen.

Sei es der klassische Drache, der meinem Krieger ein Bein ausreißt, oder ein zufallsgeneriertes vergessenes Biest, das im ‚Fortress Mode‘ nach einem erbitterten Kampf dutzende Zwerge meiner Festung schwerverletzt zurücklässt. Neue Gefahren für die körperliche und geistige Gesundheit werden in jedem Update hinzugefügt und bringen mich dazu,  mich ständig auf neue Situationen einzustellen, um meinen Figuren zu helfen.

Und hier wird es bereits kompliziert, da Dwarf Fortress durchaus versucht, sowohl medizinisch akkurat als auch komplex zu sein. Dabei bilden Physis und Psyche jedoch nicht unbedingt eine Einheit, denn die Verletzung des Körpers geht nicht unbedingt mit einer psychischen Erkrankung einher und vice versa. Mit dem Fokus auf physischen Behinderungen konzentriere ich mich auf den Funktionsverlust und das Fehlen einzelner Körperteile; sei es durch Angriffe, Unfälle oder Krankheiten.

Demigodlike Supercripple or Micromanagemental Burden?

Hat eine Figur eine Behinderung erfahren, liegt es einzig in meiner Verantwortung damit zu arbeiten. Dabei gilt es zwischen ‚Adventure Mode‘ und ‚Fortress Mode‘ zu unterscheiden.

Der ‚Adventure Mode‘ wird als klassisches Roguelike aus der ersten Person erfahren. Fehlende Augen führen zu Blindheit und es gilt sich langsam voranzutasten. Fehlende oder funktionslose Extremitäten können keine Waffen oder Schilde tragen und im Kampf nichts mehr ausrichten, also weder zuschlagen, noch treten oder ringen. Es ist jedoch möglich, in einer Hand sowohl Waffe als auch Schild und im Bedarfsfall sogar eine Krücke zu halten. Dies gleicht ein fehlendes oder funktionsloses Bein beziehungsweise einen fehlenden oder funktionslosen Arm locker aus. Bei weiteren Verletzungen wird es jedoch komlizierter und plötzlich taucht die Erinnerung an den schwarzen Ritter wieder auf.

Fehlen beide Beine oder ist deren Funktionsfähigkeit abhanden gekommen, ist meine Bewegungsgeschwindigkeit extrem eingeschränkt und ich muss kriechend durch die Welt ziehen, kann aber noch mit meinem ganzen Arsenal angreifen. Fehlen beide Arme, dann ist nur Treten, Ringen und Beißen möglich. Auch mit nur einem Arm oder einem Bein kann ich noch gegen sämtliche Opponenten antreten, die sich mir in den Weg stellen. Selbst das Fehlen aller Extremitäten lässt mir noch die Möglichkeit, mich kriechend durch die Welt zu beißen: ein Angriff der, solange ich noch Zähne besitze, äußerst effizient sein kann. Sollte ich nach einem Kampf Verletzungen der Nervenbahnen davontragen, gelten im übrigen ähnliche Einschränkungen wie bei fehlenden Körperteilen. Ich kann also trotz extremster Einschränkungen immer noch Geschichte schreiben, vorausgesetzt ich bin bereit mich durch längere Kampfdialoge zu tippen, je nach Schwere der Behinderung.

Eine Variation an Angriffen, die einer gesunden Figur zur Verfügung stehen. Je nach Art der Behinderung fallen manche Optionen weg.

Diese Möglichkeiten gibt es selbstverständlich auch im ‚Fortress Mode‘, nur dass hier mehrere Bedingungen hinzukommen.

Im ‚Fortress Mode‘ bin ich in einer eher omnipotenten Position, die mehr an ein Strategiespiel mit Nuancen einer Lebenssimulation errinnert. Wenn ein Zwerg sich hier beispielsweise in einem Kampf verletzt, wird er je nach charakterlichen Eigenschaften noch weiterkämpfen oder aber relativ früh einknicken. Mithilfe von Figuren, die über die Diagnostik-Fähigkeit verfügen, lässt sich feststellen, was genau verletzt und wie mit der Heilung zu verfahren ist. Dies erfordert weitere Fähigkeiten und herzustellendes Equipment, aber im Idealfall kann ein Patient selbst nach mehreren Amputationen nekrotischer Extremitäten vollkommen genesen und wieder einer konstruktiven Beschäftigung nachgehen; er steht dann den ‚abled‘ Dwarfs in nichts nach. Es ist jedoch äußerst wichtig anzumerken, dass viel Eigeninitiative gefragt ist, um beispielsweise das Hospital einzurichten und bestimmte Krankentransporte zu übernehmen, die meine Zwerge nicht ausführen wollen oder können.

Der Diagnosebildschirm lässt bereits Vermutungen auf die Spätfolgen der Verletzung zu.

Ein Zwerg ohne Bein kann mit Krücke immer noch in den Kampf ziehen und diese sogar als zusätzliche Waffe verwenden und einer, dem beide Beine fehlen, greift immer noch bereitwillig zur Axt, muss aber damit rechnen, dass die Schlacht bei seiner Ankunft bereits beendet ist. Trotzdem kann er, falls gut genug trainiert, ganze Belagerungen im Alleingang niederschlagen und den Bildschirm mit blutroten ASCIIs füllen.

Ein funktionsloser Arm heißt, dass der andere immer noch mehr als genug Kraft hat, um sich bis zur Hölle selber zu graben, und fehlendes Augenlicht bedeutet, dass ein zwergischer Holzfäller im Angesicht der Gefahr nicht panisch wird, selbst wenn ihm ein gigantischer untoter Elefant gegenübersteht. Das muss nicht zu seinem Vorteil sein, aber er übertrumpft so schon jeden sehenden Zwerg, der bereits bei dem Anblick eines friedlich umherwandernden Wildschweins flieht.

Zu guter Letzt können hier Rollen eingenommen werden, die bei gesunden Zwergen äußerst gefährlich wären. Etwa der Vollzugsapparat der Festung. Wer keinen Hammer schwingen kann, vollstreckt keine Todesstrafen, und wer nicht richtig zuschlagen kann, kann auch keine Prügel austeilen. Diese eher zynische Form der Arbeitgeberpolitik verhindert schlimmere Auswüchse der mitunter sehr willkürlichen Justiz und das Empowerment liegt hier klar auf der Kraft, die Kraft nicht zu haben.

Emotionally stable Supercripple

Es gilt: Sobald die betroffene Person die Verletzung sicher überlebt hat, ist fast alles machbar; sei es auch jenseits des Spieles fast unmöglich. Während ein echter Mensch nach dem Verlust einer Hand mit hoher Wahrscheinlichkeit lange Zeit tief gezeichnet wäre, ist ein Zwerg in Dwarf Fortress relativ schnell wieder dabei, sein Leben in die andere Hand zu nehmen und versucht das Beste aus der Situation zu machen, indem er, falls gegeben, die ausgestellten Künste der Festung bewundert, feine Speisen zu sich nimmt und seine Leber zur Schwerstarbeit überredet. Solange der Verlust seine Stimmung nicht auf ein so niedriges Level gebracht hat, dass eine psychische Störung mit Suizidalität getriggert wird, ist für ihn also alles in Ordnung.

The Normal Dwarf

Letzlich legt Dwarf Fortress selbst keinen großen Wert darauf, eine Figur offensichtlich als behindert darzustellen. Blickt man auf die ‚Unit List‘ wird aufgelistet, wer zur Festung gehört und welche Arbeit diese Figur verfolgt, wer tot oder vermisst ist und welche Lebensformen sich noch auf der Karte aufhalten. Nicht die Behinderung. Dazu muss erst das Statusmenü aufgerufen werden, das über gesundheitliche Zustände lediglich als Unterpunkt informiert; und auch das nur, wenn das Amt des Chefarztes besetzt ist. Ansonsten scheint niemand etwas zu bemerken, was, wenn wahrscheinlich auch nicht absichtlich, für eine sehr inklusive zwergische Gesellschaft spricht. Auch ist eine Behinderung kein Ausschlusskriterium für einen Zwerg, wenn es darum geht, höhere Ziele zu erreichen, da ich als Spieler bei vielen Ämtern die Wahl habe, an wen ich sie vergebe. Jeder Zwerg mit zumindest einem Arm kann immer noch zur Legende in seiner Profession werden.

Beruflich ist für einen Zwerg mit Behinderung bis hin zu den höchsten Adelstiteln alles möglich. Der von der Hüfte abwärts gelähmte Veteran ist jetzt ein guter Lehrer für die jungen Rekruten und die Königin, die seit einem Minenunfall ihr linkes Bein vermisst, kann das Volk immer noch durch Außenpolitik und professionelles Verhandeln mit Karawanen unterstützen. Blindheit lässt zwar den Qualitätsmodifikator von hergestellten Produkten schrumpfen, doch das lässt sich umgehen indem ein erblindeter Zwerg einfach einer Tätigkeit zugewiesen wird, die diesen Modifikator nicht hat.

Selbst das Fehlen zweier Arme hat außer der Unfähigkeit, in einem Workshop zu arbeiten, faktisch nur den Nachteil, dass Kleidung nicht mehr gewechselt werden kann und verrottende Kleidung langsam zum Wahnsinn führt. Da diese Verletzung aber tendenziell eher im Kampf passiert, ist Urist McBlackKnight ohnehin gerüstet und Rüstung verrottet nicht. Dementsprechend kann er trotz Umständen immer noch einen wichtigen Aussichtsturm besetzen und ein glückliches Leben mit Freunden und Familie führen. Oder eben zurück in den Kampf wollen. Was mir jedoch für diese Patienten fehlt, ist die Pflege als richtiger Beruf, da diese Tätigkeit bisher bloß eine Aufgabe mit niedriger Priorität ist, die dazu dient Patienten vom Verhungern und Verdursten abzuhalten, nicht aber sie umzuziehen, falls sie es nicht können, oder vernünftige Krankentransporte innerhalb des Hospitals durchzuführen, sowie emotionalen Beistand zu leisten, der über gelegentliche Konversation hinausgeht.

Der Kosmos von Dwarf Fortress mag mitunter zwar von tiefschwarzem Humor durchzogen und im selben Moment brutal realistisch wie unrealistisch sein – aber er ist fair. Ein Zwerg mit Behinderung wird von anderen als eben das wahrgenommen, was er ist. Ein Zwerg. Ein kleines Wesen, das in einer Welt voller Wahnsinn und Chaos seinen Teil zur Ordnung und zur Gemeinschaft beiträgt, indem er seine Arbeit verrichtet, das Schöne wertschätzt und gelegentlich feiert. Dass es hier an einem Aufgreifen des Themas der einfachen Zwerge untereinander, geschweige denn einem Diskurs unter zwergischen Gelehrten fehlt, mag manchem zwar unangenehm aufstoßen. Aber es zeigt letzlich eine Gesellschaft, die von vornherein dermaßen inklusiv ist, dass dieses Thema nicht einmal angesprochen werden muss.

Vadim Wuckert studiert in seiner Freizeit Medienwissenschaft im B.A. an der Uni Marburg, um im weiteren Verlauf seiner Karriere mal als Drehbuchschreiber und Regisseur in der Spieleentwicklung tätig zu werden. Hauptberuflich erweitert er seine DVD-Sammlung und spielt Games, mit viel Politik, Philosophie und Meta.

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