Die Trauer gestrandeter Wale – Behinderung in Life is Strange

Max will eigentlich nur helfen. Ihrer besten Freundin Chloe den Verlustschmerz nach dem Tod ihres Vaters ersparen. Unter Einsatz ihrer Kräfte zur Zeitmanipulation verhindert sie den Autounfall des Vaters, doch findet sie bei ihrer Rückkehr Chloe im Rollstuhl. Von der einst rebellischen Attitüde des Teenagermädchens ist wenig übrig. Mit einem Tubus im Hals, stets sitzend und liegend, ohne die türkisenen Haare, wirkt sie beunruhigend zahm. In einer Parallelmontage bei der ersten Begegnung steht Max der Schock ins Gesicht geschrieben. Life is Strange nimmt sich zu Beginn der vierten Episode Zeit für eine elaborierte Betrachtung des Themas Behinderung. Das ist lobenswert, denn im Rahmen unserer Untersuchung mussten wir zu dem Ergebnis kommen, dass es kaum Spiele gibt, die mutig genug sind, dem Phänomen Raum zu geben. Allerdings stolpert das episodische Adventure letztlich über seinen dramaturgischen Anspruch und konfrontiert seine Spieler mit einem abgegriffenen Dilemma.

Max geht neben Chloe her; sie spazieren vorbei an toten, gestrandeten Walen, mit denen Chloe sich im Dialog vergleicht. Chloe bedankt sich bei Max für ihre Freundschaft und fügt hinzu, dass ihre anderen Freunde den Kontakt abgebrochen haben. Die omnipräsente Melancholie bettet das sensible Gespräch in einen Moment orchestrierter Reflexivität.

„Look, the worst thing you can do is treat me like a baby. I still want to laugh and talk shit with my best friend. […] I don’t want anybody else feeling sorry for me.“

Life is Strange macht, wie anhand des Zitats ersichtlich ist, einen emanzipatorischen Diskurs stark. Chloes Behinderung ist nicht zu übersehen, aber sie ist ebenso nicht das bestimmende Merkmal ihrer Persönlichkeit. Das Mitleid, welches Max ihrer besten Freundin entgegenbringt, lehnt sie bestimmt ab.

Die zweite Sequenz führt näher heran an die tatsächliche Lebenssituation von Chloe. War sie im eigentlichen Zeitstrang fast ununterbrochen mit ihrem Truck unterwegs, fühlt sie sich nun in ihrem Zimmer gefangen; medizinische Hilfsmittel als Gitterstäbe. Sie spricht von der Scham der Abhängigkeit und der Objektifizierung ihres Körpers durch Ärzte. Die autarke Rebellin steht in drastischem Kontrast zu dem verletzlichen Mädchen, das eine Nummer im System von Institutionen ist. Chloe durchdringt ihre Verfassung gedanklich und so wird eine stereotype Darstellung von Behinderung vermieden. Sie ist in einer tragischen Situation, doch worunter sie leidet ist nicht hauptsächlich ihre körperliche Verfassung; es sind die Mechanismen sozialer Exklusion. Life is Strange gelingt eine pointierte Kritik am Umgang mit Behinderungen. Zur Hochschule kann sie nicht, da das Gebäude nicht barrierefrei ist. Vormalige Freunde führen ein aktives Leben und nehmen keine Rücksicht, dass da ein Mensch ist, der teilhaben möchte, aber nicht kann. Stapel unbeglichener Rechnungen bilden eine Collage des strukturellen Versagens von Krankenkassen und Sozialstaat. Chloe hat mit sich selbst genug zu tun. Aber sie scheitert an den Steinen, die andere ihr beiläufig in den Weg legen.

Bis zu diesem Punkt erhält Life is Strange eine konstante Spannung aufrecht. Eine Spannung zwischen Chloes emanzipatorischem Verlangen einerseits und ihrer augenscheinlichen Ohnmacht andererseits. Durch die emphatische Verwendung der kinetischen Begriffe ‚running’ und ‚jumping’ wird der Verlust an Mobilität unterstrichen und eine nostalgische Sehnsucht aufgebaut. Zum Zwecke der dramaturgischen Zuspitzung aber geht Life is Strange noch einen Schritt weiter – und womöglich einen Schritt zu weit. Als Max eine Morphinspritze aus dem Badezimmerschrank nimmt und unterwegs auf Chloes Eltern trifft, die allseits beteuern, wie kostbar jeder Tag mit ihrer Tochter sei, ungeachtet der finanziellen Konsequenzen für die Familie, wird Max mehrfach darauf gestoßen, dass Chloe nicht nur behindert sei, sondern tatsächlich sterbenskrank.  Und sie ist sich dessen durchaus bewusst.

Wir müssen nicht so weit gehen wie Colin Barnes, Gründer des Centre for Disability Studies in England, der die Sequenz in einem Interview mit Pixeldiskurs mit dem Nazi-Propagandafilm Ich klage an (1941) zur Rechtfertigung der Euthanasie vergleicht. Aber als Chloe Max um aktive Sterbehilfe bittet, da ihre Tage gezählt seien, wird das Problem überdeutlich. Ja, der Spieler kann sich hier entscheiden und ja, es ist vollkommen legitim über aktive Sterbehilfe nachzudenken. Doch bricht Life is Strange die Speerspitze seiner institutionellen Kritik am Umgang mit Behinderung ab zugunsten eines eigentlich unverwandten Themas. Behinderung, palliative Fürsorge, Sterbehilfe – als die Sequenz in der abschließenden Entscheidung kulminiert, verschwimmen die Fragen.

Dabei soll nicht ungeachtet bleiben, dass dem digitalen Spiel ein medienontologischer Kniff zueigen ist, der im Falle von Life is Strange als subtile Pointe gelesen werden kann. Denn so sehr Chloe auch todessehnsüchtig flehen mag: die Handlungsmacht liegt letztlich beim Spieler. So wird auch in der semantisch überfrachteten Entscheidungssituation noch deutlich, über welch geringes Maß an Autarkie Chloe verfügt. Die sich einstellende Überforderung im Angesicht der Verantwortung über ein Menschenleben bricht sich in der dritten Handlungsoption bahn, die als ‚I don’t know‘ betitelt wird und keine Handlungsoption ist. Versucht sich der Spieler auf jene Weise dem Dilemma zu entwinden, bekräftigt Chloe abermals ihr Verlangen jetzt und hier zu sterben.

Ein ephemerer Zustand ist diese spielerische Handlungsmacht, denn unabhängig davon, wie der Spieler sich entscheidet: Max wird abermals in der Zeit zurückreisen und ihren vormaligen Eingriff rückgängig machen. Chloes Vater stirbt und die extrovertierte Rebellin macht mit ihrem Truck wieder Arcadia Bay unsicher. Unabhängig davon, ob der Spieler sich für oder gegen aktive Sterbehilfe entscheidet, erscheint die Verfassung von Chloe als unerträglicher Zustand. So deutet Life is Strange mit seiner schmerzhaft menschlichen und ebenso pointierten Kritik zielsicher auf die institutionelle Struktur einer Gesellschaft, die nicht für Menschen mit Behinderungen entworfen ist. Die einfühlsamen Dialoge artikulieren eben jene Konflikte, denen 7,6 Millionen Menschen in Deutschland tagtäglich gegenüberstehen[1]. Damit ist viel erreicht. Und damit gehört der Titel zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu denjenigen Spielen, die sich ausgesprochen differenziert mit dem Thema befassen. Aber dann, wenn es wirklich darauf ankommt, gleitet Life is Strange die Kritik aus der Hand. Die tödliche Morphindosis löst nicht die Probleme derjenigen, die sich wie Chloe ausgeschlossen und zurückgelassen fühlen. Ein Abend mit lieben Menschen, dem Director’s Cut von Blade Runner und einem nachhallenden Echo der Kritik, dass es doch nicht sein kann, dass Anfang des 21ten Jahrhundert immer noch wichtige Orte des sozialen und kulturellen Lebens für Rollstuhlfahrer unzugänglich und Institutionen der staatlichen Wohlfahrt unkooperativ sind – das kann helfen.

[1] Quelle: Statistisches Bundesamt

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Über Stefan Heinrich Simond

Stefan Heinrich Simond (shs) publiziert und unterrichtet im Bereich der Game Studies am Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Er promoviert zur Konstruktion psychischer Krankheiten und psychiatrischer Institutionen in digitalen Spielen, ist Chefredakteur bei pixeldiskurs.de und hostet den wöchentlichen Pixeldiskurs-Podcasts.