„I’ve got the perfect life!“, lässt die Protagonistin Amy jeden wissen, der es hören will. Dabei hat sie keineswegs das perfekte Leben. Nachdem die Bomben des Dritten Weltkriegs gefallen waren, blieben nur radioaktive Ruinen übrig. Wie die meisten Menschen leidet auch Amy an den Folgen der Verstrahlung. Behandelt wird nur der Gewinner eines Lotteriespiels, das von der dekadenten Aristokratie ausgerichtet wird. Um überhaupt ein Ticket zu bekommen, muss Amy einen gefährlichen Lotteriejob annehmen, wo ihre Reise durch das dystopische Shardlight startet.
Wie gefährlich solche Lotteriejobs sind, erfährt Amy gleich am Anfang des Spiels. Sie wird nicht nur mit der Zerstörung des Krieges, sondern auch mit dem Tod des einfachen Volkes konfrontiert. Shardlight fährt eine stimmige und düstere Atmosphäre auf. Der Tod wird beispielsweise durch schwarze Raben mit rot-leuchtenden Augen begleitet – die Vorboten des mystischen Reapers.
An der Misere der Menschen sind zweifelsohne die Perückenköpfe der Autokratie schuld, die aus dem postapokalyptischen Überleben ein Glücksspiel machen. Im historischen Sinne muss also eine Revolution her, die allerdings erstmal von Amy gefunden werden muss. Gesucht wird zunächst ein zeitgenössischer Danton.
Alle Hinweise führen zu einer gesicherten Tür, neben der eine Kreidetafel hängt, auf die Amy rumkritzeln darf. Das Chalkboard Puzzle stellt sich, bevor Shardlight eigentlich erst richtig losgeht, als eines der größten Herausforderungen im Spiel heraus. Denn auch der Tipp „Brush up on your calligraphy” hilft nicht wirklich weiter. Wo soll Amy in einer postapokalyptischen Welt ihre Schönschrift üben? (Der Entwickler Francisco Gonzalez wird in naher Zukunft vermutlich gefragt werden: „Are you the bastard that wrote that chalkboard puzzle?“)
Dem Spieler wird beim Malen auf die Tafel einfach zu viel Freiheit gelassen. Die Lösung ist eigentlich relativ einfach zu erraten, nur die Umsetzung aka Schönschrift ist nicht so leicht umsetzbar. Das Chalkboard Puzzle stellt aber nur eine Ausnahme dar. Alle anderen Rätsel sind logisch zu lösen und erzeugen keine Hänger. Shardlight hat insofern einen exzellenten Spielfluss, was der spannenden Geschichte rund um Raben, Reaper und Revolution sehr zuträglich ist. Nach zehn Stunden ist diese dann allerdings auch schon wieder vorbei.
Ist Amy erstmal durch die Sicherheitstür durch, trifft sie sogleich auch schon auf Danton. Im Gegensatz zu den historischen Erwartungen steht ihr kein weißer Mann, sondern eine farbige Frau gegenüber. In Sachen Repräsentation ist Shardlight ein revolutionäres Spiel. Nicht nur ist die Spielfigur, ohne dass es einer Erklärung bedarf, eine Mechanikerin, sondern auch andere Charaktere wie Danton werden mit Leichtigkeit ihrer Stereotypen enthoben. Alle Figuren, ob sie weiblich, farbig oder auch homosexuell sein mögen, fühlen sich einfach nur menschlich an, ohne objektiviert zu werden. Gender, Hautfarbe und sexuelle Orientierung spielen in der postapokalyptischen Welt von Shardlight einfach keine Rolle mehr.
Hat Amy deshalb ein perfektes Leben? Wohl kaum, denn eine Hierarchie besteht immer noch zwischen dem Adel und dem einfachen Volk. Die Aussage „I’ve got the perfect life!“ ist insofern ein sarkastischer Code des Widerstands, um herauszufinden, wer der Revolution angehört und wer nicht. Außer dem dekadenten Adel hat in Shardlight nämlich niemand ein perfektes Leben. Deshalb ist Amys Motivation sich, der Rebellion anzuschließen auch äußerst nachvollziehbar, worüber ich allerdings nicht mehr sagen darf:
So viel sei gesagt: Die Charakterbildung in Shardlight sucht, wie von Wadjet Eye Games gewohnt, ihresgleichen. Insbesondere Amy ist eine äußerst sympathische Figur, was vor allem an ihrer hervorragenden Vertonung liegt. Es macht einfach Spaß, Amy zuzuhören und zu erfahren, was sie über ihre Umwelt denkt. Zu der tollen Vertonung kommen zusätzlich schön gezeichnete Charakterporträts hinzu, die die Gefühlslage der Figuren visualisieren. Amys Ausdruckskala reicht dabei von Freude, wenn sie mit den Kindern vor ihrem Haus seilspringt, bis Zorn beim Kampf gegen die Aristokratie.
Aber auch der Anführer der Aristokratie, Amys Gegenspieler Tiberius, ist nicht einfach nur ein Standardbösewicht. Immer wieder macht er klar, dass er aufgrund eines übergeordneten Wohls handeln muss und bereut teilweise seine Taten. Dann wiederum bekommt er psychotische Anfälle und redet mit sich selbst. Solch ausdifferenzierte Charakterzüge sieht man in Computerspielen leider viel zu selten (erinnert Tiberius Charakter am ehesten noch an den Governor aus der Fernseh- und Comicserie The Walking Dead).
Shardlight verfolgt keine Schwarz-Weiß-Philosophie, in der sich Kategorien wie Gut und Böse, Mann und Frau oder eben Schwarz und Weiß bilden lassen, sondern erstrahlt in einem grünen Licht, das alle künstlichen Grenzen verschwimmen lässt, was Shardlight zu einem revolutionären Abenteuer macht.