Derzeit hat es ein bereits älteres Konzept geschafft, nicht nur die unterschiedlichsten Bereiche des täglichen Lebens zu unterwandern, sondern sich auch in den Medien nachhaltig als neues Buzzword zu etablieren: Gamification.
Im Prinzip beschreibt dieser Begriff eine Motivationsstrategie, mittels derer Personen durch die Nutzung spielerischer Abläufe leichter an ein bestimmtes Sujet herangeführt werden können, welches eigentlich keine Schnittmengen mit einem Spiel besitzt. Oder im Klartext: Wenn eine Person eine bestimmte Aufgabe nur ungern durchführen möchte, kann man sie dadurch motivieren, indem man daraus ein Spiel macht (oder zumindest spielerische Elemente zur Motivationssteigerung nutzt).
Dies ist im Prinzip recht einfach: Die Palette der Möglichkeiten reicht von Ranglisten über Zeitlimits bis hin zu Belohnungen für die Erledigung bestimmter Aufgaben, z.B. das Sammeln von Treuepunkten im Supermarkt gegen vergünstigte Produkte, oder (auf digitaler Ebene) die Erlangung von Achievements für bestimmte Tätigkeiten.
Während Achievements mittlerweile als geläufiger Bestandteil aktueller Spiele gelten, ist das Prinzip der Steam-Sammelkarten zwar ähnlich, verfolgt aber zusätzlich einen ökonomischen Aspekt. Die Spitze des Eisbergs stellt derzeit jedoch das von Sony entwickelte „EvolutionUI„-Konzept für Android dar, welches dem Nutzer die Bedienfülle aktueller Android-Systeme durch regelmäßige Nutzung und die Erledigung von simplen Aufgaben näherbringen soll: Zu Beginn ist das Smartphone in der Benutzung stark limitiert, während einzelne Apps und Funktionen nur durch die wiederholte Nutzung freigeschaltet werden können. Durch dieses Konzept sollen auch die Nutzer erreicht werden, die technisch nicht so versiert sind wie die Smartphone-Nutzer der ersten Stunde. Diese belächeln das Konzept jedoch in ähnlicher Weise wie ein BMX-Profi einen Fahrradanfänger mit Stützrädern.
Alles schön und gut, aber wie sieht das Ganze denn nun in der Praxis aus? Kann eine unbeliebte Tätigkeit durch die Hinzunahme spielerischer Elemente attraktiver für den Nutzer werden? Ich wage einen Selbstversuch.
Rahmenbedingungen
Mein Semester ist durch die Abgabe der Bachelorarbeit frühzeitig beendet. In einem Anflug von Euphorie und der Akkumulation vergangener (und nicht gehaltener) Neujahrsvorsätze verwirre ich meine Mitmenschen, indem ich folgenden Satz ständig und ungefragt wiederhole: „Wenn die Bachelorarbeit fertig ist, fange ich an zu joggen.“
Neben meiner pragmatisch bedingten Lauf-Aversion, die ich mit vielen anderen Menschen teile, gesellt sich noch der völlig untrainierte Körper zur Checkliste der Problematiken hinzu. Woher also die Motivation nehmen? Gibt es dafür vielleicht eine App…?
Ja, natürlich: „Zombies, Run!“ Die App an sich ist zwar nicht neu und noch aus dem Jahr 2012, aber wie könnte man sich besser motivieren, als während der Zombie-Apokalypse um das eigene Leben zu rennen? Geradezu oldschool, da man ja im zeitgenössischen Zombie-Spiel scheinbar eher untätig im Gebüsch herumliegt.
Die App
„Zombies, Run!“ ist eine seinerzeit über Kickstarter finanzierte App von Six to Start, welche im Prinzip verschiedene Elemente einer Jogger-App, eines Hörbuchs und eines Strategiespiels vereint. Während des Laufvorgangs integriert sich die Geschichte durch nahtlos in die eigene Musik-Playlist eingestreute Funksprüche von Überlebenden, die den Läufer von einem innerdiegetischen Punkt aus „sehen“ und anfunken können. Durch diese einzelnen Episoden bekommt der sogenannte „Runner 5“ verschiedene Aufträge, die hauptsächlich aus dem Aufsammeln von Dingen während des Laufens und der Flucht vor sich nähernden Zombies bestehen. Nach der absolvierten Runde können die gesammelten Gegenstände dazu verwendet werden, um in der App ein virtuelles Basislager aufzurüsten und zu erweitern.
Der Versuch
Eines schönen Morgens trete ich in kompletter Montur vor die Haustür: Die Laufschuhe sind geschnürt, die Funktionskleidung sitzt, und ich hatte sogar noch an ein sinnvolles Gadget gedacht: Ein Jogging-Armband zur Befestigung am Oberarm, welches das Smartphone schützen soll.
Die Kopfhörer sind drin, die App ist gestartet und…ich höre keine Musik, weil die App zuerst eine Playlist braucht. Hm, blöd. Wo kann ich Playlisten anlegen? Muss ich das vielleicht über eine andere App bewerkstelligen? Nee, geht auch nicht. Liegt es an mir? Liegt es an der App? Egal, dann eben erstmal ohne Musik. Ist bestimmt sinnvoller und authentischer und so. Außerdem wäre es peinlich, wenn ich jetzt eine Stunde hier sitze und statt zu laufen eine Playlist anlege. Also los.
Ein erster Funkspruch erreicht mich bereits nach kurzer Laufzeit. Laut Vorgeschichte bin ich mit dem Hubschrauber abgestürzt und muss mich nun in Sicherheit bringen. Eine Funkübertragung, die sich an Überlebende des Absturzes richtet, empfiehlt einen schnellen Rückzug, denn „sie kommen!“.
Der erste entfernte und guttural klingende Zombielaut lässt mich instinktiv umdrehen und schneller laufen. Faszinierend. Andererseits bin ich an dieser Stelle ziemlich froh, dass ich die Zusatzoption „Random Zombie Chases“ deaktiviert gelassen habe, da diese für eine kurze Zeit eine 20prozentige Geschwindigkeitssteigerung erfordert und mir bereits ziemlich die Pumpe geht.
Obwohl die Übertragungen alle auf englisch sind und man sich an solche ungewohnten Klänge im Westerwelle-Deutschland erst gewöhnen muss, bin ich bereits derart im Spiel (Ist es ein Spiel? Ja, irgendwie schon) versunken, dass ich mich nach Zombies umdrehe, obwohl ich genau wissen müsste, dass mir auf dem Marburger Radweg in Richtung Cappel (eigentlich) keine Untoten über den Weg laufen dürften. Trotzdem ertappe ich mich dabei, wie ich auf die Anweisung des Überlebenden „Wave if you can hear me“ beinahe schon die Hand anhebe, damit er sieht, dass ich ihn verstehe. Tss, diese Medien! Und in der Uni lachen wir immer noch über die Fernsehzuschauer von anno dazumal, die seinerzeit noch dachten, dass sie mit den in die Kamera redenden Moderatoren interagieren könnten (sog. „parasoziale Interaktion„).
Doch was ist das? Plötzlich flötet mir eine Frauenstimme „Collected some bandages“ ins Ohr. Dies wird sich alle paar Schritte wiederholen, jedoch immer mit unterschiedlichen Gegenständen, die ich quasi im Vorbeilaufen mitnehme. Die Palette der Goodies reicht von Medipacks über Batterien bis hin zu Wasser und Nahrung, die allesamt für die spätere Verwendung in der virtuellen Basis benötigt werden. Plötzlich bringt mich jedoch die Durchsage „Collected a Sports Bra“ ein wenig aus dem Tritt. Ein Sport-BH? Natürlich: Die Welt ist untergegangen und Zombies bevölkern die Erde. Da nimmt man mit, was man kriegen kann, vor allem Sport-BHs.
Nach kurzer Zeit versetzt mich die plötzliche Funkstille aber in eine nachdenkliche Stimmung: Warum eigentlich keine Sport-BHs? Wenn die wenigen Überlebenden nur noch vor den Untoten wegrennen können, ist ein stützender BH sicher von Vorteil, nicht zuletzt im Hinblick auf die baldige Repopulation. Was wäre die unsubtilere Alternative zum Sport-BH gewesen? Päckchen mit Kinder-Fertignahrung? Aber ich schweife ab, denn da kommt schon der nächste Funkspruch. Was mich bis dahin stört: Das vor meinem Brustkorb rumbaumelnde Kopfhörerkabel und die Tatsache, dass ich manchmal einfach zu sehr mit Weiteratmen beschäftigt bin, sodass ich die Funksprüche nur partiell verstehe.
Plötzlich ein Schockmoment, als ich an einem (realen) Gebäude vorbeilaufe: Ein zombös klingendes Geräusch in unmittelbarer Nähe lässt den Adrenalinausstoß steigen. War ich zu langsam? Oder ist das sowas wie ein „jump scare“-Zombie? Nach kurzer Verwirrung merke ich jedoch, dass das Geräusch von einem (realen) Frosch produziert wird, der im (realen) Teich vor dem (realen) Firmengebäude sitzt. Interessant, dass sich die Ebenen auch in die entgegengesetzte Richtung beeinflussen können, in diesem Fall die Realität die Fiktion.
Nachdem ich die Runde beendet habe, kann ich die gesammelten Gegenstände in den Ausbau des virtuellen Lagers investieren. Ich verschiebe dies jedoch auf später, da ich nach den gelaufenen Kilometern ein Sauerstoffzelt und eine kalte Dusche benötige. Als ich am nächsten Tag die App erneut aufrufe, benachrichtigt mich eine Meldung mit dem Satz „Zombie Attack! The Zombies have damaged your base!“. Nun wird mir plötzlich klar, auf welch perfide Weise hier die Motivation zum Weiterlaufen stattfinden soll: Wartet man zwischen einzelnen Läufen zu lange, machen die Zombies die Basis kaputt und töten die Bewohner. Die Basis kann zwar durch den Einsatz von Gegenständen wieder repariert werden, jedoch nur solange noch Ressourcen vorhanden sind, die man wiederum durch erneutes Laufen generiert.
Durch diese Tatsache ist plötzlich mein innerer Sheldon Cooper geweckt, der durch das jahrelange Spielen von Aufbaustrategietiteln bei möglichst allen eigenen Gebäuden einen Zustand von 100% sehen möchte. So gerne ich jedoch sofort für „meine“ Basis weiterlaufen würde: Mein Körper hat jetzt erstmal drei Tage Muskelkater und somit sorgt diese Leerlauf-Phase für weitere Schäden im Lager und zusätzliche „human casualties“.
Fazit
Sehr schöne Idee, die wirklich funktioniert, zumindest bei mir. Ich hatte und habe zwar immer noch mit kleineren technischen Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen, finde das Gesamtpaket aber durchaus gelungen. Es hat mich vor allem überrascht, dass durchaus ein immersiver Effekt zu verzeichnen ist, der auch dann noch zum Weiterlaufen animiert, wenn man eigentlich denkt, dass man nicht mehr dazu in der Lage ist. Interessante Schlusserkenntnis: Laufen macht mir (bis jetzt) immer noch keinen Spaß. Ich fühle mich jedoch durch die spielerischen Anreize deutlich motivierter.
Interessant wäre zu guter Letzt die Überlegung, inwieweit bestimmte Aspekte der Gamification bereits in das eigene Leben Einzug gehalten haben. Sind „Achievements“ wie z.B. „Mitarbeiter des Monats“ nicht im Prinzip dasselbe? Folgen wir durch das Sammeln von digitalen Belohnungen nicht einem typischen Vorgang, der mit den Treuepunkten im Supermarkt schon längst zum Alltag gehört? Oder reicht der menschliche Trieb des Sammelns nicht eher über die Prinzipien des Spiels hinaus? Mögliche Antworten darauf könnte das Buch „Homo Ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel“ von Johan Huizinga geben, wo zumindest bestimmte kulturelle Aspekte des Spiels und des Wettkampfes näher beleuchtet werden. Dies muss jedoch an anderer Stelle erörtert werden, da ich jetzt ganz dringend weiterlaufen und zusätzliche Sport-BHs sammeln muss, um den Niedergang der Menschheit zu verhinden. Meine Basis braucht mich!
Gedanklicher Nachtrag: Was hindert mich eigentlich daran, mich vom „Runner 5“ zum „Biker 5“ zu promoten? Ob die App das merkt? Immerhin besitze ich ein (reales) Fahrrad und könnte somit viel schneller vor den Zombies flüchten und in kürzester Zeit viel mehr Goodies aufsammeln. Ist das inner- oder extradiegetischer Betrug? Ist es überhaupt Betrug? Wenn man schon Realität und Fiktion verbindet, sollte das doch in beide Richtungen funktionieren. 🙂