Geschichten bilden einen festen Bestandteil unseres Alltags und unserer Kultur, unter anderem in Form von Medien. Diese Bedeutung spiegelt sich auch in den zahlreichen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Narration wider. Dabei nehmen insbesondere Medien wie Literatur und Film sowie ihre Möglichkeiten, Erzählungen umzusetzen, eine zentrale Position ein. Wie kann das vergleichsweise junge Medium der Computerspiele Geschichten erzählen? Diese Fragestellung bildet den Ausgangspunkt für Christian Niblers im Jahr 2015 veröffentlichte Dissertation Achievement & Exploration. Dramaturgie der Grenzüberschreitung im Computerspiel.
Dieser Beitrag wurd von unserem Gastautor Christopher Probst geschrieben. Die Autoreninformationen befinden sich am Ende des Artikels.
Nibler strebt mit seiner Arbeit kein geringeres Ziel an, als ein Standardwerk für die geisteswissenschaftliche Analyse von Computerspielen zu entwickeln (vgl. S. 18). Damit will er dem Medium und seinen einzigartigen dramaturgischen Möglichkeiten gerecht werden, die es von anderen Medien wie Literatur, Film und Theater unterscheiden (vgl. S. 14). Aus diesen stammen häufig die Ansätze, die zu einer eingehenden Betrachtung auf Computerspiele übertragen werden, aber die spezifischen Eigenschaften des neuen Mediums nicht in ihrer Gänze erfassen können. Nibler bedient mit seinem Beitrag also eine nicht zu unterschätzende Nachfrage.
Zu Beginn seiner Arbeit setzt sich Nibler mit bisherigen Beiträgen zum Erzählen in Computerspielen auseinander, insbesondere mit der Diskussion, ob Games überhaupt ein narratives Medium seien. Er kommt zu dem Schluss, dass dieser Diskurs nicht produktiv ist, da das Ergebnis letzten Endes immer davon abhänge, welche Definition von Narrativität zugrunde gelegt wird (vgl. S. 48). Folglich hält er sich nicht weiter mit dieser Frage auf und setzt stattdessen im weiteren Verlauf ohne weitere Erläuterung voraus, dass Computerspiele in der Lage sind, Geschichten zu erzählen.
Da es noch kein medienspezifisches Modell gibt, um die Dramaturgie in Games zu analysieren, erarbeitet Nibler ebendieses im dritten Kapitel, dem Kern seiner Arbeit. Er identifiziert drei Aspekte, die für das Erzählen in Computerspielen von zentraler Bedeutung sind: Gameplay, Design und Dramaturgie (vgl. S. 51). Die beiden Elemente Gameplay und Design sind für ihn von besonderer Relevanz, weil sie die gespielte Handlung in einem Computerspiel maßgeblich bestimmen (vgl. S. 117). Die gespielte Handlung wiederum ist das einzigartige Merkmal von Videospielen. In keinem anderen Medium haben die Rezipienten die Möglichkeit, die Handlung selbst zu erfahren, sondern können nur andere dabei beobachten. Die Dramaturgie eines Computerspiels sieht Nibler dementsprechend auf der Ebene des Gameplays (vgl. ebd.). Bei der Erarbeitung der Kernaspekte seines Modells wird die Ambition des Autors deutlich, ein Standardwerk abzuliefern, denn er breitet minutiös die theoretischen Grundlagen seines Modells aus. Beispielsweise entwickelt er zunächst eine medienunabhängige Definition von Dramaturgie, bevor er diese medienspezifisch auf die gespielte Handlung eines Computerspiels bezieht. Zudem nimmt er durchaus kleinere Exkurse in Kauf, um seine Herleitungen weiter zu erörtern, etwa bei seinen Ausführungen zum Sujetbegriff oder Jurij Lotmans Raumkonzept. Diese sind für Niblers Arbeit als Ganzes zwar nicht von tragender Bedeutung, sind aber hilfreich für ein umfassenderes Verständnis.
Im vierten Kapitel verwendet Christian Nibler sein Modell für eine exemplarische Analyse der Dramaturgie der gespielten Handlung in The Legend of Zelda. An diesem Beispiel stellt er die für seine Dissertation namensgebenden Charakteristika Achievement und Exploration sowie die Figurenentwicklung heraus und zeigt die Bedeutsamkeit dieser Elemente für die Dramaturgie in Computerspielen. Unter Achievement versteht Nibler einen „Handlungserfolg […], der eine vom Spieler als Belohnung empfundene Folge hat“ (S. 205), während Exploration für ihn die Erkundung des virtuellen Raumes und die Auslotung der im Spiel geltenden Regeln umfasst (vgl. S. 211). Er misst den drei Merkmalen so hohen Wert bei, dass er gewissermaßen das Action-Adventure zum prototypischen zeitgenössischen Computerspiel erklärt. So gibt er etwa an, dass „andere Genres durch Verwendung einzelner Elemente dieses Genres mit einer dramaturgischen Struktur versehen wurden und sich neue Genres entwickelten“ (S. 197). Auch im fünften Kapitel beschreibt er zwar Weiterentwicklungen des Mediums Computerspiel und die weitere Ausdifferenzierung von neuen Genres, bezieht aber auch diese stets wieder zurück auf das Action-Adventure als Ausgangspunkt.
Unter Rückgriff auf seine allgemeine Definition von Dramaturgie stellt Nibler den Mehrwert seines Modells dar, indem er einen Vergleich der Vermittlung der postapokalyptischen Dystopie in Literatur, Film und Computerspiel durchführt. Ähnlich wie bei der ausgesprochen detaillierten Erarbeitung seines Modells beginnt er auch hier mit einer Vorstellung davon, was unter postapokalyptischer Dystopie zu verstehen ist. Der Vergleich zeigt deutlich die unterschiedlichen, jeweils einzigartigen Möglichkeiten des Geschichtenerzählens, welche die verschiedenen Medien bieten. Nibler schließt seine Arbeit mit einigen anekdotischen Bemerkungen über die kathartische Wirkung, die Dark Souls für ihn entfalten konnte, weil es ihm ermöglicht, selbst das Leid des scheiternden Helden zu spüren, anstatt nur mit dem Helden der Geschichte zu leiden. Er argumentiert zu Recht, dass dies eine Form der Katharsis ist, die nur Spiele bieten können, da andere Medien nicht dieselbe Art von Einbindung zur Verfügung stellen (vgl. S. 330f.).
Ob Achievement & Exploration. Dramaturgie der Grenzüberschreitung in Computerspielen als das Standardwerk angenommen wird, dass Christian Nibler mit seiner Dissertation anstrebt, wird sich wohl erst im Laufe der Zeit zeigen. Bei seiner Arbeit handelt es sich jedoch zweifelsohne um einen gelungenen theoretischen Grundstein für die Analyse der Dramaturgie von Videospielen. Durch die ausgesprochen kleingliedrige Unterteilung in viele Unterkapitel, die in manchen Fällen gerade einmal einen Absatz umfassen, wirkt zwar das Inhaltsverzeichnis ein wenig einschüchternd. Für ein wiederholtes Nachschlagen bestimmter Passagen ist diese Vorgehensweise, in Kombination mit dem Register, allerdings durchaus hilfreich. Das Potenzial, das gesteckte Ziel zu erreichen, ist also gegeben.
Zum Autoren des Artikels:
Christopher Probst ist seit seiner frühen Kindheit von Videospielen begeistert und hat es bisher noch nie über sich gebracht, eine Einladung zum Zocken auszuschlagen. Seitdem er im Bachelor Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg studiert und am studentischen Game Studies Kolloquium teilnimmt, findet er noch mehr Gründe, um zu spielen – für die Wissenschaft.