Entscheidungen, Entscheidungen. Wir treffen sie alle. Ich entscheide mich dazu, diese Rezension zu schreiben, du entscheidest dich, sie zu lesen. Vielleicht geschieht Letzteres jedoch auch nicht freiwillig. Vielleicht hast du ja gar keine Wahl. Vielleicht bist du ein Stanley.
Dieser Beitrag wurde von unserer Gastautorin Cynthia Wolf geschrieben. Die Autorinneninformation befindet sich am Ende des Artikels.
Ich befinde mich zu Beginn des Spiels The Stanley Parable in einem trist aussehenden Raum eines Bürokomplexes. Ein Erzähler erklärt, dass ich die Rolle des Stanley eingenommen habe. Wie auch alle anderen Mitarbeiter trage ich eine mir zugeschriebene Nummer – die 427. Mir wird zu verstehen gegeben, dass meine Situation durchaus unüblich sei. Nicht nur bekomme ich keine Arbeitsanweisungen von meinem Computer, ich bin auch komplett alleine. Kein Mitarbeiter sitzt an seinem Platz. Da bin nur ich und der Erzähler, der jede meiner Handlungen kommentiert. Also begebe ich mich auf die Suche.
Hierbei kann ich dem mir vorgegebenen Weg folgen, oder auch einen eigenen einschlagen, denn immer wieder komme ich an Punkte des Spiels, an denen ich mich dem Erzähler widersetzen kann. Er möchte, dass man die linke Tür nimmt? Da gehe ich doch rein aus Prinzip den rechten Weg! Doch angenommen ich folge gehorsam seinen Anweisungen, dann stehe ich recht bald wieder an gleicher Stelle. The Stanley Parable selbst ist nur von kurzer Dauer. Folgt man allen Anweisungen, erreicht man eines der vielen möglichen Enden und das Spiel beginnt von vorne. Spätestens an dieser Stelle wird der Spieler mit dem alternativen Ausblick, zur ewig gleichen Geschichte verdammt zu sein, zur Aufsässigkeit provoziert. Denn schließlich ist man doch auch neugierig, was sich hinter der anderen Tür verbirgt. So hört man wie das Rotkäppchen die rügende Stimme der Mutter in Form des Erzählers, der einen darauf hinweist, dass man vom Weg abgekommen sei. Aber die Blume am Waldrand leuchtet so anziehend. Das Geheimnis hinter der zweiten Tür ist zu verlockend, um nicht nachzusehen. Die Neugierde siegt, ich widersetze mich weiterhin und nehme dafür auch einen bösen Wolf[1] in Kauf. Vielleicht erreiche ich dadurch nicht das vorgesehene Ende, aber ist nicht ohnehin der Weg das Ziel?
Zugegeben, es erfüllt mich zudem auch mit einem Gefühl der Macht, die Kontrolle zu haben und meine eigenen Entscheidungen zu treffen, doch hin und wieder wird mir in meiner Euphorie ein Spiegel vorgehalten. So erschafft der Erzähler ein Leaderboard und fragt provokant, ob sich mein Spielverhalten dadurch verändert habe. Ich fühle mich ertappt. Zwar mag es nicht unbedingt auf The Stanley Parable zutreffen, aber es ist durchaus der Fall, dass mich eine kompetitive Gegenüberstellung wie diese anspornt, in Richtung Perfektionismus treibt und dadurch möglicherweise sogar länger an ein Spiel bindet. Es ärgert mich, als Spieler so leicht durchschaubar zu sein, besonders als mich die Steam-Errungenschaften erneut auf eine Probe stellen. „Click on door 340 five times.“ lautet die Beschreibung eines dieser Achievements. Eine simple Aufgabe eigentlich, nur hat sie mit dem Spielgeschehen nichts zu tun. Die Tätigkeit für die Errungenschaft ist weder zielführend, noch würde man sie zufällig freischalten, ohne die Beschreibung gelesen zu haben. Diese Möglichkeit des Erwerbs besteht also nur des Erwerbs wegen. Achievements sollen üblicherweise von anderen Spielern gesehen werden. Sie sind ein Aushängeschild und zeigen dir: „Guck mal, das habe ich schon alles erreicht!“. Aber möchte ich wirklich, dass meine Freunde sehen, was ich für ein kleines bisschen Bestätigung, in Form eines bedeutungslosen Spielerfolgs auf mich nehme? Denn eines sei gesagt, es bleibt nicht bei dem angekündigten fünfmaligen Klopfen. Man wird von Tür zu Tür gescheucht. Zehn Mal klopfen hier, 25 Mal dort und steig doch noch einmal auf diesen Stuhl! Der Erzähler macht sich einen Spaß daraus, wie viel der Spieler über sich ergehen lässt. Es ist aber auch lächerlich, eine einzige Parodie. Das Schlimmste daran ist, ich bin mir dessen bewusst und befolge trotzdem brav seine Anweisungen, nur für ein weiteres Abzeichen in meiner Sammlung.
Das kürzlich noch vorherrschende Kontrollgefühl verfliegt. Ich agiere wieder nur als Marionette und frage mich, ob nicht ich an Stelle Stanleys die Spielfigur bin. Der Erzähler tritt als gottgleiche Macht auf. Er ist nicht nur allgegenwärtig, sondern lässt meine Figur sogar fliegen oder erschafft eine Galaxie um mich herum. Doch eines der möglichen Enden gibt Aufschluss darüber, dass selbst der Erzähler eine ihm übergeordnete Instanz besitzt. Eine weibliche Stimme kommentiert sein Handeln genauso wie er das meine. Wider Erwarten scheint er somit nicht die höchste Position einzunehmen. Diese kafkaeske Struktur stellt die Kontrolle erneut in Frage. Wer besitzt die Macht? Der Erzähler? Seine Erzählerin? Ein weiterer, noch unbekannter Kommentator? Oder etwa doch der Spieler?
Schließlich hat dieser noch immer die Möglichkeit, sich den Anweisungen zu widersetzen. Er hat die freie Wahl, zumindest wird ihm dies suggeriert. Denn eigentlich bewegt man sich in seinem Entscheidungsspektrum stets in dem vom Spiel vorgegebenen Rahmen. Nicht der Spieler hat die Kontrolle, da er zwischen zwei Türen entscheiden kann. Die Programmierer haben sie, denn sie bieten ihm nicht nur diese Optionen, sondern lassen ihn auch in einer Illusion der Situationsbeherrschung zurück. Indem die Spieleentwickler für jede einzelne Handlungsmöglichkeit in The Stanley Parable verantwortlich sind, gibt es keinen Weg, den sie nicht vorausgeplant haben. Somit treten sie als ein heruntergebrochener Determinismus und damit, in der Thematik der vermeintlichen Selbstbestimmung, als antagonistische Kraft auf. Sogar ein „Nicht Spielen“ kann nicht als Sieg gegen sie gedeutet werden, da sie selbst das in Form einer Errungenschaft eingebaut haben. Sie fordern in der Achievement-Beschreibung aktiv dazu auf, nach draußen zu gehen und involvieren somit das „Real Life“ mit ins Spiel. The Stanley Parable beschränkt sich somit nicht nur mehr auf den Bildschirm, sondern lässt die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit verschwimmen.
Dies findet ebenfalls mit dem Durchbrechen der vierten Wand statt. Der Erzähler zeigt mehrfach auf, dass man sich in einem Spiel befindet. Neben Bemerkungen, wie der über das Fehlen von Stanleys Füßen, spricht er mich direkt an und fragt, wie ein Spiel meiner Meinung nach sein sollte. Dabei werden Umgebungen aus beliebten Klassikern wie Portal oder Minecraft um mich herum generiert. Gerade am Beispiel von Letzterem werden die beschränkten Möglichkeiten des Spielers wieder deutlich aufgezeigt. Minecraft, welches als Open World Game für seine enorme Entscheidungsfreiheit bekannt ist, steht im starken Kontrast zur Darstellung in The Stanley Parable. Während man sich im Original frei bewegen und jeden beliebigen Block abbauen kann, so ist man in der angelehnten Version auf ein kleines Feld beschränkt. Aus diesem kann der Spieler nicht entfliehen. In der gewohnten Umgebung, ohne die üblichen Möglichkeiten, fühle ich mich wie ein Insasse eines Gefängnisses, der die Freiheit durch seine Gitterstäbe sieht, sie jedoch nicht erreichen kann. Diese Hilflosigkeit zeigt mit am deutlichsten meine fehlende Kontrolle auf.
Ich folge einer Stimme, die mir sagt, welche Richtung ich zu gehen habe. Ich überdenke mein Handeln nicht, warum auch? So ist es doch viel leichter. The Stanley Parable ist nicht nur eine clevere Parodie auf das Spielverhalten und Computerspiele an sich, es lädt auch zur ständigen Selbstreflexion ein. Wie ein moderner Immanuel Kant zeigt es auf, wie schnell man der Unmündigkeit verfällt. Ganz nach dem Leitsatz der Aufklärung[2] werde ich als Stanley dazu herausgefordert, mich meines Verstandes zu bedienen und dem System nicht blind zu folgen. Mit dem Durchbrechen der vierten Wand und die, an einen selbst gerichtete, direkte Ansprache des Erzählers, greift dies auf den Spieler über und hinterlässt diesen, auch nach Herunterfahren des PCs, damit beschäftigt. An einigen Stellen der Story bietet das Spiel zurückhaltend und sanft die Möglichkeit zur Reflexion, an anderen wird der Spieler offensichtlich dazu aufgefordert.
Es liegt bei einem selbst, dies einzugehen oder abzuschlagen. Entscheidet man sich für Letzteres, so bleiben immer noch ein unterhaltsamer Erzähler und die Herausforderung, möglichst viele Enden der Geschichte zu entdecken. Lässt man sich jedoch darauf ein, wird man vielleicht die ein oder andere Parallele zu Stanley feststellen können. Wie viele deiner Handlungen hinterfragst du eigentlich? Entscheidest du frei nach deinem Willen oder wird dir das nur suggeriert? Hast du die Kontrolle über dein Leben?
In diesem Sinne: Sapere aude, „Stanley“!
[1] Hiermit ist lediglich ein wütender Kommentator gemeint, kein echter Wolf. Doch vielleicht käme man bei Letzterem glimpflicher davon.
[2] Sapere aude! (lat. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!) – Immanuel Kant, 1784
Zur Autorin des Artikels:
Cynthia Wolf begann im Oktober 2015 ihr Bachelor Studium der Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Seit ihrer Kindheit spielt sie die unterschiedlichsten Arten von Videospielen, weshalb jene natürlich auch einen wichtigen Schwerpunkt ihres Studiums ausmachen. Als Autorin des Pixeldiskurs hat sie nun eine weitere Ausrede, sich eben diesen vermehrt in ihrer Freizeit zuzuwenden und über sie zu schreiben.