Mit der Umgebung erzählen: Environmental Storytelling im digitalen Raum – Teil 2

Die Fortsetzung „Mit der Umgebung erzählen: Environmental Storytelling im digitalen Raum – Teil 2“ schließt thematisch an Teil 1 des zuvor veröffentlichten Artikels an und illustriert exemplarisch an dem Beispiel der Map Mondkolonie Horizon des Multiplayer-Ego-Shooters Overwatch wie sich Environmental Storytelling im digitalen Raum determiniert und durch digitale Flanerie für die Spieler_innen erfahrbar wird. Daran angeschlossen folgt ein Fazit, dass beide Artikel zusammenfasst.


Mondkolonie Horizon: Eine Bestandsaufnahme

Das futuristische Erscheinungsbild von Mondkolonie Horizon

Jede Map von Overwatch bietet eine Fülle an semantisch aufgeladenen Gegenständen und Hinweisen, welche durch die digitale Flanerie[1] entdeckt werden und aufgrund des Environmental Storytellings intradiegetische Geschichten erzählen können. Allerdings müssen hierfür zunächst besagte Gegenstände durch die Spieler_innen topografisch verortet werden. Wie bereits dem Namen der Map zu entnehmen ist, befinden sich die Spieler_innen auf einer Mondstation, deren Aussehen durch ein futuristisches und minimalistisches Erscheinungsbild geprägt ist. Weitere Details über den genauen Standpunkt bietet eine Übersichtskarte in den ersten begehbaren Räumen der Map, die verdeutlicht, dass sich die Spieler_innen lediglich in einem begrenzten Teil der Station, dem Observatorium, befinden. Zudem wird gezeigt, dass zwei Testsubjekte namens Winston (die eine steuerbare Spielfigur von Overwatch ist)[2] und Hammond (eine bislang noch nicht vom Entwickler näher beschriebene Figur) verschwunden sind. Das reduzierte, geordnete Erscheinungsbild wird allerdings bereits in den darauffolgenden Räumen der Station durch eine allgemeine Unordnung gebrochen. Dies ist erkennbar an Gegenständen wie zerbrochenen Fensterscheiben, umgeworfenen Stühlen und Regalen, sowie Fußspuren an Wänden, welche nicht von Menschen zu stammen scheinen. Ein umfangreiches Erkunden der umliegenden Räume liefert weitere Informationen zur Funktion des Observatoriums der Mondstation, denn neben einem typischen Teleskop befinden sich dort ebenfalls ein Klassenzimmer und kleinere Wohneinheiten.

Das Verschwinden der Spielfiguren Winston und Hammond

Beim Betreten der einzig begehbaren Wohneinheit weist eine Computerstimme daraufhin, dass Winston zurzeit nicht anwesend sei. Zudem können die Spieler_innen in einer der großen Hallen des Observatoriums eine gigantische Kletteranlage begehen, die neben Leitern und Seilen auch Reifenschaukeln aufweist. Allgemein fällt eine große Anzahl von Erdnussbuttergläsern in einigen der beschriebenen Räume auf. Diese zeigen, wie die Mondstation von Schimpansen und Gorillas übernommen wird. Hinsichtlich dessen können zwischen den einzelnen Sichtungen der Räumlichkeiten interpretative Brücken von den Spieler_innen geschlagen werden, die eine vollständige intradiegetische Erfahrung formen, obgleich eine solche Diegese für den Ablauf des eigentlichen Spiels nicht notwendig sein muss. Der Spieletitel Overwatch lebt unter anderem von dieser Art des Environmental Stroytellings. Er erweitert damit sein Genre um eine narrative Ebene. Obwohl jede der bislang 19 erschienenen Maps[3] auf eine divergente Weise eine jeweilige Intradiegese kreiert, wirken diese zusätzlich als narrative extradiegetische Verweisinstanzen, da sie Gegenstände und Hinweise enthalten, die auf eine übergeordnete Narration von Overwatch verweisen.

Von links nach rechts: Klassenzimmer, nicht-menschliche Fußspuren an der Wand, Übernahme der Primaten, Winstons Wohneinheit


Konklusion 

Neben der Funktion als Lieferant für extradiegetische Verweise[4] auf Grundlage des Environmental Storytellings sowie der digitalen Flanerie und der damit verbundenen „zusätzlichen Rezeptionsebene“[5], fungiert der digitale Raum am Beispiel von Overwatch und der Map Mondkolonie Horizon als Erzählmedium, das den Spieler_innen eigene Interpretationsmöglichkeiten zu noch nicht näher erörterten narrativen Lücken bieten kann. Dementsprechend entsteht eine Intradiegese des Spiels innerhalb des digitalen Raumes (bei Overwatch in der jeweiligen Map). Diese Intradiegese könnte alleingenommen für sich stehen. Umfassender betrachtet, führt die Kumulation dieser intradiegetischen Einzelnarrationen, die auf eine extradiegetische transmediale Narration in Film und Comic verweist, zu einer reziproken diegetischen Anreicherung und narrativen Ergänzung durch dementsprechende transmediale Rückkopplungen. Der digitale Raum des Spiels erzählt also seine eigenen ‚environmental‘ Geschichten. Er bietet aber auch Verweise zu anderen Medien, die auf den digitalen Raum rückverweisen und darin enthaltenen Gegenstände eine neue semantische Bedeutung geben können, um somit weitere Geschichten entstehen zu lassen. Zudem kann die übergeordnete Narration kontinuierlich mit neuen Inhalten erweitert werden. Besonders in der heutigen Zeit von digitalen Spielen, die permanent mit dem Internet verbunden sind, wird dies durch Updates oder Patches möglich. In Overwatch nimmt der digitale Raum dementsprechend eine bedeutende Rolle ein, da er für die Spieler_innen als Katalysator zur Interpretation neuer Erzählstränge wirkt. Da diese Interpretationen regelmäßig auf einschlägigen Foren[6] geteilt werden, können sie für den Entwickler Blizzard als Denkanstoß für neue Kurzfilme, Comics sowie Illustrationen fungieren, die die zusammenfassende übergeordnete Narration anreichern. Schritt für Schritt würde dies bedeuten, dass die Entwickler_innen einen Raum zu Verfügung stellen, den Spieler_innen begehen können. Anschließend können die Spieler_innen ihre Erfahrungen in einem Forum schildern. Die Entwickler_innen können an die Erfahrungen der Spieler_innen anknüpfend dementsprechende transmediale Verbundstücke zu Verfügung stellen, die entweder die Interpretation der Spieler_innen unterstützen oder sogar weiteren Input dazu liefern. Diese Annahmen sind selbstverständlich rein spekulativ, obgleich sie auch im Bereich des Möglichen liegen können, wenn in Betracht gezogen wird, dass sich Overwatchs übergeordnete Narration sukzessiv auf einer wachsenden Zahl unterschiedlicher Kurzfilme, Comics, Illustrationen sowie der Veröffentlichung neuer Maps und Spielfiguren gründet.

Einige vergangene Ereignisse legen jedoch nahe, dass einerseits die Community einen großen Einfluss auf das Entwicklerteam hat[7] und dieses wiederum durch immer neue spontane Wendungen innerhalb der Spielfigurendiegese die übergeordnete Narration fortlaufend gestalten kann.[8] Nichtsdestotrotz ist der digitale Raum bezüglich einer vollständigen Diegese unabdingbar, da die besagte übergeordnete Narration im Kern auf dem digitalen Spiel selbst und nicht auf den transmedialen Inhalten fußt. Dementsprechend ist eine facettenreiche Ausgestaltung hinsichtlich zukünftig erscheinender Maps unerlässlich, um die übergeordnete Narration und auch den damit verbundenen Absatz des Spieletitels möglichst lange fortzuführen. Es ist kein Geheimnis, dass diese Art des Spielkonzepts zu kommerziell erfolgreichen und höchst wiedererkennbaren Spielemarken führt,[9] weshalb auch andere Spieleentwickler ähnliche narrative Ansätze bezüglich der Gestaltung von diegetischen Spielfiguren verfolgen.[10] Daran anschließend ist besonders bemerkenswert, dass sich seit 2014 das Sub-Genre des Hero-Shooters herausgebildet hat, welches unter sich analoge Genremerkmale bezüglich des gewählten Beispiels Overwatch subsumiert.[11]


[1] Der Begriff der digitalen Flanerie beschreibt die Exploration der Spieler_innen in einen vordefinierten digitalen Raum. Durch diese Exploration können intentional platzierte Gegenstände oder Eigenschaften erfahren und gesichtet werden, die auf eine intra- oder extradiegetische Erzählebene schließen lassen.

[2] Spielfigurübersicht zu Winston. Abrufbar unter: https://playoverwatch.com/de-de/heroes/winston/. Zugriff: 31. Juli 2017.

[3] Mapübersicht von Overwatch. Abrufbar unter: https://playoverwatch.com/de-de/game/overview/. Zugriff: 31. Juli 2017.

[4] Gennette, Gérard. „Die Erzählung“. 3. Auflage. UTB Verlag, 2010. S. 163. „Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.“

[5] Vgl. Runzheimer, Bernhard: „Die digitale Flanerie als reflexive Raumexploration im Computerspiel“. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium Journal, Nr. 2, 2017, S. 300.

[6] Offizielles Overwatch‑Forum von Blizzard Entertainment. Abrufbar unter: https://eu.battle.net/forums/de/overwatch/19369418/. Zugriff: 31: Juli 2017.

[7] McWhertor, Michael: „Blizzard is removing a sexualized pose from Overwatch, citing player feedback”. Abrufbar unter: https://www.polygon.com/2016/3/28/11321138/overwatch-tracer-pose-removal. Zugriff: 01. August 2017.

[8] Frank, Allegra: „Overwatch’s new comic confirms game’s first queer character”. Abrufbar unter: https://www.polygon.com/2016/12/20/14028604/overwatch-gay-tracer. Zugriff: 01. August 2017.

[9] Grubb, Jeff: „With $1 billion in revenue, Overwatch is Blizzard’s fastest-growing franchise”. Venturebeat. Abrufbar unter: https://venturebeat.com/2017/05/04/with-1-billion-in-revenue-overwatch-is-blizzards-fastest-growing-franchise/. Zugriff: 01. August 2017.

[10] Beispiele hierfür sind Spiele wie Battleborn, Paragon, BattleCry, Gigantic, Paladins.

[11] Wawro, Alex: „Hero Shooters: Charting the (re)birth of a genre”. Abrufbar unter: https://www.gamasutra.com/view/news/271933/Hero_Shooters_Charting_the_rebirth_of_a_genre.php. Zugriff: 01. August 2017.

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Über Nils Bernd Michael Weber

Nils Bernd Michael Weber schreibt und castet nun schon seit einiger Zeit für Pixeldiskurs.de. Ansonsten hat er eine Ausbildung zum Industriekaufmann absolviert, einen Bachelor in Medienwissenschaft abgeschlossen und studiert nun im Master "Medien und kulturelle Praxis" an der Philipps-Universität Marburg. Er behauptet von sich selbst Ästhetiker, Feminist und Kulturkritiker zu sein. Ersteres lebt er in Maßen auf seinem Pinterest-Account aus.