„Menschen, die du täglich siehst, auch wenn du sie nicht bemerkst. Stell dir vor, das wärst du!“
– Against All Odds
Das von der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) entwickelte Spiel Against All Odds (2005) versetzt den Spieler in die Rolle eines Flüchtlings. In drei Kapiteln begibt man sich auf die Flucht aus dem eigenen Land, kämpft mit der Angst wieder abgeschoben zu werden und den Problemen, die auf jemanden zukommen, der sich in einem völligen fremden Land eine neue Existenz aufbauen muss. Doch kann Against All Odds einen tieferen Eindruck in die Notlage von Flüchtlingen vermitteln?
Kapitel 1: Krieg und Konflikt
Wir beginnen im eigenen Land, welches für uns kein sicheres Zuhause mehr darstellt. Menschen werden verhaftet und befragt. So auch wir. Schon zu Beginn wird der Spieler vor eine sehr unangenehme Situation gestellt: Die Antworten, die man gerne geben würde, decken sich nicht mit denen, die die Polizei hören will. Nun hat man zwei Optionen: Entweder man bleibt bei seiner persönlichen Meinung, wird dafür verhaftet und das Spiel ist beendet. Oder man sagt das, was von einem erwartet wird, muss dann aber mit dem unangenehmen Gefühl leben seine Prinzipien verraten zu haben. Unausweichlich stellt sich mir in diesem Moment die Frage: Wenn mir allein diese Situation in einem Videospiel Magenschmerzen bereitet, wie grausam muss es für einen Menschen sein, der sich tatsächlich mit einer solchen Situation konfrontiert sieht?
Danach müssen wir für unsere Flucht packen. Viele Dinge, die ich gerne mitgenommen hätte, muss ich schweren Herzens zurücklassen, da mein Rucksack nicht viel Platz hergibt. Nach unserer Flucht aus der Stadt, während der wir lernen müssen, dass wir nicht jedem trauen dürfen, der uns angeblich helfen will, machen wir uns auf die Flucht. Diese stellt uns wieder vor schwere Entscheidungen: Solle ich den Lastwagenfahrer bezahlen, obwohl er mehr als das Doppelte des vereinbarten Preises verlangt? Soll ich meinen besten Freund zurücklassen, weil er seinen Pass vergessen hat und uns so alle in Gefahr bringen könnte? Lange dauert es und wir müssen viele Gefahren überstehen, aber wir haben es endlich geschafft und können uns im neuen Land sicher fühlen. Oder?
Kapitel 2: Grenzland
Die erste Hürde ist geschafft – wir sind aus unserem Heimatland geflohen. Doch müssen wir feststellen, dass ganz neue Problem schon auf uns warten. Zwar müssen wir uns jetzt nicht mehr vor Flucht und Verfolgung fürchten, dafür aber vor Intoleranz und Verständigungsproblemen. Auf der Suche nach einer ersten Unterkunft müssen wir Menschenkenntnisse beweisen; andernfalls enden wir blutend in einer Gasse. Die Menschen sind uns alles andere als wohlgesonnen und auch wenn wir eine Unterkunft finden, bleibt das Problem mit der Sprachbarriere. Ein Telefonat, während dem wir kein Wort verstehen, ist nur ein Beispiel dafür, wie unangenehm es auch für den Spieler wird, wenn er wortwörtlich nicht versteht, was um ihn herum passiert.
Kapitel 3: Ein neues Leben
Ist die erste Zeit überstanden, müssen wir uns ein neues Leben aufbauen. Die Suche nach einem Job gestaltet sich schwierig, denn egal wie nett und höflich wir auftreten, wie adrett wir beim Vorstellungsgespräch gekleidet sind und wie geeignet wir für unseren favorisierten Job scheinen, mehr als der Job als Putzkraft ist nie drin. Paranoia macht sich in mir breit: Sind die anderen Bewerber vielleicht – wie das im Leben nun einmal so ist – einfach besser geeignet für den Job oder werde ich gerade tatsächlich diskriminiert? Eine Antwort bekomme ich nicht, die Unsicherheit bleibt. Beim Kauf eines Handys hingegen werden wir ganz offen mit den Vorurteilen, die die Einheimischen uns gegenüber haben, konfrontiert. Aber auch die Menschen, die uns gegenüber offen und unbefangen sind, gibt es. Zum Schluss stellen wir uns einigen kulturellen Unterschieden mit unseren neuen Nachbarn und schon ist es da: Das Ende der Flucht und der Angst und der Anfang eines neuen Lebens.
Selten habe ich ein Spiel erlebt, das mit so wenigen Mitteln so viel ausdrücken kann. Against all Odds beweist, dass es keine aufwändig inszenierten Momente braucht, um beim Spieler etwas auszulösen. Alles, was man benötigt, ist ein direker Bezug zur Realität. Die Gewissheit, dass das, was man in 45 Minuten Spielzeit beendet, für viele Menschen über Monate und Jahre hinweg Realität ist. Und diese haben, im Gegensatz zum Spieler, nicht die Möglichkeit eines Neustarts. Against all Odds erreicht bei mir so genau das, was es erreichen will. Zwischendurch war ich wütend, traurig, aber hauptsächlich, und das auch noch lange nachdem ich es beendet hatte, nachdenklich. Immer wieder fand ich mich in Situationen wieder, in denen ich mich fragte: „Wie würde ich jetzt handeln, wäre ich wirklich in dieser Situation? Wäre ich mutig, hätte ich Angst? Würde ich überleben? Würde es jemanden Interessieren, täte ich es nicht?“. Empfehlen kann ich es also als Erfahrung, die es sich lohnt zu machen. Denn es ist ein massiver Unterschied, ob ich etwas über ein Thema im Fernsehen sehe oder in der Zeitung lese; oder ob ich mich selber in der Handlungsverantwortung finde. Den Fernseher kann ich ausschalten, die Zeitung zuschlagen. Zwar kann ich das Spiel auch beenden, aber die Betroffenheit bleibt. Vielleicht nur für eine Weile, aber im besten Falle wird das Gefühl, das man nach Against all Odds bekommt, nicht mehr verschwinden. So, dass wir nie vergessen, wie es ist, gesehen aber nicht bemerkt zu werden. So, dass wir nie vergessen, dass wir eigentlich auch sie sind.