Anlässlich der Vortragsreihe zum Thema „Let’s play the War on Terror“, die im Zuge der Reading Week des Fachbereichs 09 der Philipps-Universität Marburg von unserem Kolloquium und dem GameLab veranstaltet wurde, werden nun einige der Vorträge in Artikelform veröffentlicht. In diesem Beitrag geht es um das Spiel September 12th und um die Fragen, was Newsgames sind und ob sie, ihrer Bezeichnung entsprechend, eine neue Form der Nachrichtenverbreitung sind.
September 12th ist ein Browsergame bei dem man sich darüber streiten kann, ob man es überhaupt als „Spiel“ bezeichnen darf. Der Entwickler Gonzalo Frasca hat damit 2003 ein vollkommen neues Genre erschaffen und die Möglichkeiten von Videospielen um ein interessantes Feld erweitert: Den Journalismus. Unter dem Titel Newsgame ist diese Art von Spielen mittlerweile in wissenschaftlichen Kreisen anerkannt und bietet fortwährend reichlich Diskussionsstoff.
Unter die Bezeichnung fallen viele differenziertere Formen des Genres, die jeweils ihre eigene Spezialisierung haben und die der Game-Akademiker Ian Bogost ausführlicher behandelt hat. Das Spiel September 12th ist seiner Meinung nach ein Editorial Game.[1] Das bedeutet, es ist ein interaktiver Kommentar zu einer bestimmten Thematik. Sie stellen in der Welt der Berichterstattung das spielbare Äquivalent zu Kolumnen dar. Die von den Entwicklern vertretene Meinung wird erst im Akt des Spielens deutlich, weshalb Newsgames generell meist für eine sehr kurze Spielzeit ausgelegt und ausdrucksstark gestaltet sind. Editorial Games sollen einen konkreten Standpunkt vermitteln, dem die Spieler nach dem Spielen zustimmen oder den sie ablehnen können. Gonzalo Frasca ist es persönlich nicht wichtig, welche der beiden Möglichkeiten die Rezipienten der Spiele wählen, er ist der Ansicht, dass es das Wichtigste ist, wenn ein Newsgame die Menschen überhaupt zum Nachdenken über die behandelte Thematik und zur Reflexion ihrer eigenen Handlungsweise bewegen kann.[2] Diese Auffassung vertritt auch Miguel Sicart, ein Professor im Bereich der Computerspielforschung. Seiner Meinung nach können Computerspiele Menschen in moralische Wesen verwandeln indem sie die Spieler in gegebenen Situationen handeln und Entscheidungen treffen lassen, anstatt ihnen schlicht einen Standpunkt, wie in einer Kolumne, zu erzählen. Newsgames sind demnach eine Innovation in der Rezeption, da die Hybride aus Journalismus und Spiel die Menschen stärker in ihren Bann ziehen und durch die eigene Handlung stärker zum Denken anregen.[3]
Da die Thematik im gewählten Beispiel eine besondere Aktualität besitzt, kann September 12th zudem als Current Event Game bezeichnet werden. Es erschien 2003 nur sechs Monate nach dem Start des Irakkrieges und beschäftigt sich mit dem Thema der Drohnenangriffe und dieser Art der Terrorbekämpfung. Direkt das Tutorial des Spiels macht darauf aufmerksam, dass es sich bei September 12th nicht um ein gewöhnliches Produkt handelt. Der erste zu lesende Satz ist „This is not a game“ und auch im Fortgang des kurzen Textes fallen immer wieder Besonderheiten auf, wie die Aussage, dass der Spieler weder gewinnen noch verlieren kann. Er könne schießen oder auch nicht. Die Simulation hätte kein Ende, sie hätte nur bereits begonnen. Die direkte Ansprache des Spielers verdeutlicht ihm seine eigene, individuelle Handlungsgewalt. Interessant ist auch die Wortwahl, die Regeln seien tödlich einfach, was auf die Einfachheit des Games anspielt und die Folgen, die daraus resultieren. Die Erklärungen des Tutorials sind wie Psalmen oder Verse eines Gedichts angeordnet und genauso interpretierbar. Jeder Spieler kann hieraus die Spielregeln ablesen und dann entscheiden, welche Handlungsweise er als angemessen erachtet.
Links neben der Einleitung befindet sich eine Zuordnung der im Spiel auftauchenden Figuren. Sehr stilisiert und dadurch sehr anonym wird eine Figur als Terrorist betitelt und drei andere, ein Mann, eine Frau und ein Kind, als Bürger.
Startet der Rezipient September 12th blickt er von einer erhöhten Position auf eine ebenso stilisierte Stadt des Mittleren Ostens. Verschiedene Häuser sowie ein Marktplatz sind erkennbar. Auf den Wegen laufen Bürger und vereinzelt einige im Vorfeld als Terroristen bezeichnete Figuren umher. Der Spieler kann sein Sichtfeld mit der Maus ein Stück weit in alle Himmelsrichtungen bewegen, sein Mauszeiger ist hierbei ein Fadenkreuz. Drückt er die linke Maustaste fliegt eine Rakete aus seiner Richtung auf das Ziel, welches er mit dem Fadenkreuz anvisiert hat und detoniert in einer großen Explosion mit Feuer und Rauch. Sofort nach dem Geräusch, welches die Detonation hörbar macht, erklingen das Schluchzen einer Frau im Hintergrund sowie eine sehr spezielle Tonfolge, die 18 Sekunden lang die vom Spiel geforderte Schusspause untermalt. Das nach dem Schuss rot gefärbte Fadenkreuz entfärbt sich im Laufe der Wartezeit langsam wieder.
Währenddessen betrachtet der Spieler das Ausmaß der von ihm angerichteten Zerstörung. Dort wo die Bombe eingeschlagen ist liegen zwischen den Trümmern der umliegenden Häuser einige Figuren, deren Aussehen auf einfache Zivilisten schließen lässt. Um sie herum knien weinend andere Personen, die bei der Explosion in der Nähe waren, jedoch nicht getroffen wurden. Diese wandeln sich innerhalb der Schusspause des Spielers zu Terroristen um, indem ihre Kleidung flackernd wechselt und sie von da an Waffen tragen. Bevor erneut ein Schuss abgegeben werden kann verläuft sich die Gruppe der neu entstandenen Terroristen in alle Richtungen.
Als Spieler fasst man den Entschluss, den nächsten Schuss präziser zu setzen, weniger Zerstörung anzurichten und keine Zivilisten zu treffen, wenn man erneut versucht, die Terroristen zu eliminieren – doch genau diese Vorhaben lässt die Spielmechanik nicht zu. Durch die Verzögerung zwischen dem Abschuss der Rakete und ihrer Detonation, der 18 sekündigen Schusspause und der Ungenauigkeit beim Zielen durch das große Fadenkreuz laufen bei fast jedem Abschuss Zivilisten ins Feld und es gibt einen großen Radius der Zerstörung. Die Regeln des Spiels sind diesbezüglich statisch und es gibt keine Level. Die simple Spielmechanik spornt bei jedem Fehlversuch an, es doch noch einmal zu probieren und eventuell ein besseres Ergebnis zu erzielen. Doch das trial and error-Prinzip ist bei September 12th auf die Verweigerung einer solchen Siegbedingung ausgelegt. Ian Bogost nannte es „rhetoric of failure“, die Rhetorik des Scheiterns, die den Spieler unweigerlich frustriert zurücklässt.[4] Obwohl der Erfolg innerhalb des Tutorials schon ausdrücklich ausgeschlossen wurde, desillusioniert es den Spieler bei den wiederholten Versuchen immer mehr. Diese Frustration ist von den Entwicklern gewollt und wichtigster Bestandteil für das Verständnis der Botschaft, die September 12th übermitteln soll. Das fortwährende Versagen bei dem Versuch, nur Terroristen zu treffen, ohne die Stadt zu zerstören und Zivilisten in Mitleidenschaft zu ziehen, führt zum vollkommenen Gegenteil. Bei jedem Schuss wandeln sich mehr Zivilisten in Terroristen um und die Stadt ähnelt mehr und mehr einem Trümmerfeld, obwohl sich die Gebäude mit fortschreitender Spielzeit langsam wieder aufbauen. Dem Spieler wird immer klarer, dass er nicht gewinnen kann und er bekommt eindeutig aufgezeigt, wie wenig zielführend eine solche, tatsächlich praktizierte Vorgehensweise bei der Terrorbekämpfung ist. Die Botschaft der Entwickler ist unmissverständlich: Auf diese Weise ist kein Sieg zu erringen und Gewalt führt immer zu Gegengewalt. Am Ende ist die Situation immer schlimmer, als zu Beginn.
September 12th ist damit ein Statement, das die Umstände zwar stark vereinfacht, dafür jedoch umso aussagekräftiger ist. Das Browsergame benötigt nur wenige Minuten, um einem aufmerksamen Rezipienten seine Nachricht nahe zu bringen. Den Entwicklern ist es wichtig, den Menschen bestimmte Themen so darzubieten, dass sich diese Gedanken darüber machen und eine eigene Meinung bilden.
Besonders interessant ist zudem an September 12th, dass in keiner Weise eine Information über das Ziel des Spiels gegeben ist. Die Grundvoraussetzungen werden durch die Einführung vermittelt, alles andere erfolgt durch implizites Lernen im Spiel. Einzig die Unterscheidung zwischen Terroristen und Zivilisten sowie die Möglichkeit Raketen abfeuern zu können, lässt den Spieler den Entschluss fassen, die Terroristen anzugreifen. Die Terroristen lassen sich anhand der mitgeführten Waffen und der anderen Kleidung identifizieren. Eine unmittelbare Bedrohung für die Bürger der Stadt geht von ihnen offensichtlich nicht aus und es werden auch keine terroristischen Handlungen, wie Anschläge, in anderen Teilen der Welt gezeigt oder genannt, die von ihnen verübt wurden. Trotz dieser Tatsache wird die Eliminierung der Terroristen von den Spielern als Spielziel angenommen und sie realisieren nicht, dass sie es selbst konstruiert haben. Den Wenigsten fallen hierbei das Fehlen einer aktuellen Bedrohung und die mangelnde Rechtfertigung ihres Handelns überhaupt auf. Sie glauben, trotz aller Hinweise des Tutorials, gewinnen zu können und ziehen eine Untätigkeit nicht in Betracht. – Es stellt sich die Frage, wer in der dargestellten Situation der Terrorist ist.
September 12th ist mit seiner kurzen und doch eindringlichen Spielweise sowie seiner deutlichen Botschaft ein ideales Beispiel für ein Newsgame. Entgegen anderer Spiele dieses Genres erscheint die Aktualität von September 12th beinahe zeitlos. Drohnenkriege dieser Art werden auch 2016 noch praktiziert und die Argumente von Fürsprechern und Gegnern sind grundlegend dieselben wie schon 2003.
Natürlich können Editorial Games oder Current Event Games keinesfalls andere Quellen der Informationsvermittlung ersetzten, doch dieses kann sich auch keine Kolumne aus einer renommierten Zeitung anmaßen. Diese Art der Spiele soll den Rezipienten intensiv auf ganz bestimmte Themen aufmerksam machen, ihn zur Reflexion anregen und dadurch sein Interesse wecken, damit er sich durch andere Medien darüber informiert. Newsgames bilden eine völlig neue und innovative Form der Berichterstattung mit Vor- und Nachteilen, wie jedes Medium. Es bleibt abzuwarten, in wie weit sich dieses Genre in Zukunft weiter etablieren wird, doch können wir uns freuen, die Nachrichtenlandschaft um ein kreatives Mittel reicher zu sehen.
[1] Vgl. Bogost, Ian; Ferrari, Simon; Schweizer, Bobby: Newsgames – Journalism at Play. (Auszug); MIT Press, 2010, S. 6.
[2] Vgl. Frasca, Gonzalo: Ludology.org: My Games; Adresse: http://www.ludology.org/my_games.html, Letzter Zugriff: 14.01.2016.
[3] Vgl. Bogost, Ferrari, Schweizer 2010, S. 12.
[4] Ebd., S. 11.