Manchmal bin ich unentschlossen. Ignoriere ich den Wecker, oder wälze ich mich aus dem Bett? Schmiere ich Marmelade oder einen Haselnuss-Nugat-Papp auf mein Brötchen? Star Wars- oder Band-Shirt? Aber es gibt seit Kurzem tiefschürfendere Fragen in meinem Leben. Kann ich es zum Beispiel mit meinem Gewissen vereinbaren, eine Geisel anzuschießen? Werde ich nachts schlafen können, nachdem ich meinem Hund eine Injektion verpasst habe, die ihn töten könnte? Und kann ich es riskieren, dass meinem treuesten Freund der Arm abgehackt wird?
Ich kann. Und die Tatsache, dass das Spiel, welches eben diese Konflikte aufwirft, mein Nutzen kalkulierendes Denken weckt, fordert und es vor allem unabdingbar macht, Opfer zu bringen und zu bestimmen, packt mich am meisten.
Gods Will Be Watching stellt vor die Wahl: Reinen Gewissens scheitern, oder moralisch zweifelhaft gewinnen.
Ursprünglich von Jordi de Paco (alias GreyShock) zum 26. Ludum Dare Game Jam eingereicht, wurde aus dem zweitplatzierten Titel [1] ein heiß erwartetes Spiel: de Pacos Indie-Studio Deconstructeam aus dem spanischen Valencia erreichte innerhalb eines Monats per Kickstarter-Finanzierung auf Indiegogo.com knapp das Dreifache der veranschlagten Entwicklungskosten [2].
Unter der Prämisse des Minimalismus entworfen, offenbart sich Gods Will Be Watching im pixeligen Point-and-Click-Gewand und gibt im Intro einen ersten Eindruck seiner schon irgendwie irgendwo mal gehörten/gelesenen/gesehenen Geschichte preis: Im Jahr 2257 steht Sergeant Abraham Burden als Söldner im Rahmen seiner Spionagemission für die interstellar-föderale ECUK zwischen seinen Auftraggebern und den Weltraumrebellen Xenolifer und schlittert von einer ausweglos erscheinenden Lage in die nächste. Dass in diesem Geflecht aus Spionage, psychischer Belastung und Brutalität ein tödliches Virus namens Medusea mitmischt und die interstellare Bevölkerung bedroht, verwundert kaum; ebensowenig, dass die zentrale Spielfigur die Bürde schon im Namen trägt (burden = engl. für ‚Last‘ oder ‚Bürde‘).
Es liegt nun also an mir, dem Spielenden, in jedem der angebotenen Szenarien die Entscheidungen zu treffen, die über (Über-)Leben und Tod entscheiden können: Verhandle ich mit der bewaffneten Einsatztruppe, die im ersten Level eine Geiselnahme beenden will? Tausche ich eine Geisel gegen Medikamente, um eine angeschossene Geisel am Leben zu erhalten? Ich könnte auch die Folterer in Level Zwei verhöhnen, des Risikos bewusst, dass sie meiner Figur Burden und Crewmitglied Jack die Zähne mit Klappern und Knacken aus dem Kiefer reißen, um die wahren Hintergründe der Spionagemission in Erfahrung zu bringen. In jedem Moment des Spiels, das wird mir mit jeder geklickten Aktion bewusst, hängt der gesamte Erfolg der Partie von meinen Entscheidungen ab.
Jeremy Benthams erstem Entwurf einer klassischen utilitaristischen Ethik ist es geschuldet, dass seit 1789 regelmäßig wiederkehrend Diskurse über Sinn und Unsinn von Entscheidungen „zum Wohle Aller“ geführt werden. Benthams teleologische Sichtweise des Utilitarismus sah ein eudämonistisches, d.h. auf für die Entscheidungssituation maximales Glück bedachtes Prinzip vor. In der weiteren Diversifizierung wurden neue Maximen postuliert, die Glücksmaximierung oder Leidverminderung einer sozialen Gruppe zur Bedingung machten (Hedonismus), vom größtmöglichen Glück für alle von der Entscheidung Betroffenen forderte (Universalismus und Altruismus), oder aber auch nur die bestmögliche Folgewirkung für den Einzelnen suchte (ethischer Egoismus). Allen Denkweisen gemein ist aber ihre Unterordnung gegenüber dem Konsequentialismus: „Der Zweck heiligt die Mittel“ ist der Leitspruch, der sich entgegen dem kategorischen Imperativ Kants („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ [3]) und den Pflicht- und Tugendethiken positioniert.
Entgegen Pflicht und Tugend liegt es in Gods Will Be Watching Spielzug um Spielzug in meiner Hand, meine Entscheidungen gründlichst zu überdenken. Eine moralisch zweifelhafte Begebenheit reiht sich an die nächste. Einen optimalen, oder gar unverwerflichen Lösungsweg? Gibt es nicht. Zumindest nicht im Spielmodus „Original“, der laut Deconstructeam das intensivste Spielerlebnis garantieren soll. So kann man sich im Internet mittlerweile zwar durch Tipps und Tricks pflügen, aber letztlich gehört zum Bestehen auch immer die berühmte Portion Glück dazu.
Aus diesem Grund ebenso wie der Tatsache, dass zahlreiche Spieler sich über die angebliche aus dem Schwierigkeitsgrad resultierende Unspielbarkeit beschwerten, rollte Deconstructeam schon zwei Wochen nach Veröffentlichung des fertigen Spiels das „Mercy Update“ aus. Seitdem ist es möglich, GWBW ohne die zufallsbasierten Einflussfaktoren zu spielen.
Das Prinzip, Spielverläufe durch Entscheidungen des Spielers beeinflussen zu wollen, spiegelt sich häufig im Gameplay aktueller Titel wider (vgl. z.B. Always Sometimes Monsters). So oder so stellt das Spiel durch sein Adventure-Setting immer wieder Fragen, die nur durch Stellungnahme des Spielers beantwortet werden können. Im Falle GWBWs deutet sich der Weg ins Dilemma aber unvermeidlich an, Schritt für Schritt nähere ich mich den immer auswegloseren Szenarien: Wie verhindere ich Runde um Runde Leid, wie kann ich mit möglichst wenigen Zügen das Überleben von möglichst vielen Figuren sicherstellen, und wie garantiere ich das Überleben meiner Hauptfigur? Das Spiel lässt mir keine Wahl. Es lässt mich altruistisches Denken verwerfen, macht mich erst zum Hedonisten und degradiert mich schlussendlich zum ethischen Egoisten – nur, um mir kurz darauf erneut die Hand zu reichen, mir wieder den universalistischen Nutzen zu suggerieren. Und ich entscheide weiter, übergehe doch wieder in jedem weiteren Anlauf die Handlungsweisen, die mir in meiner Persönlichkeit am nächsten wären. Damit mich die Götter, das heißt die Spielmechaniken, nicht erneut abstrafen und das Spiel schon wieder vorzeitig endet und mich per Neustart zwingt, Entscheidungen zu treffen, die mir unangenehm sind. So sehr mir GWBW zusetzt, so sehr erleichtert fühle ich mich nach jedem Level, das ich bestehe; froh darum, zumindest die Haut meiner Spielfigur gerettet zu haben – aber keineswegs stolz darauf.
Gods Will Be Watching (Deconstructeam/Devolver Digital) ist seit dem 24.7.2014 via Steam erhältlich.
[1] http://www.ludumdare.com/compo/ludum-dare-26/?action=top&cat=Overall%28Jam%29
[2] https://www.indiegogo.com/projects/gods-will-be-watching
[3] http://www.korpora.org/Kant/aa04/421.html