Eigentlich hätte ich gerne mehr erfahren über den Helden Monochromas, den Jungen mit dem roten Schal und der Ballonmütze. Was bringt ihn dazu, seinen verletzten und verängstigten kleinen Bruder Meter um Meter Huckepack zu tragen, weg von Zuhause? Warum lebt er in einer dystopischen Welt, die so trist, technisch und totalitär erscheint; und was macht diese Welt aus? Aber eine andere grundlegende Frage drängt sich immer wieder schmerzlich in mein Bewusstsein. Und die beschäftigt sich mit der Welt außerhalb des Spiels: Wie habe ich es vermeiden können, meinen PC aus akutem Frust aus dem Fenster zu werfen?
Platform Games sind und waren schon so gut wie immer gefragt. Was in den 1980er Jahren aus Sidescrolling Games entsprang und zumeist auch in diesem Metier verbleibt, durchlebte eine Diversifizierung in mehrere Subgenres: Jump’n’Runs, Run’n’Guns, Platform Adventures und zahlreiche hybride Formen verknüpfen die Prinzipien von Storytelling, fordernder Steuerung und Problemlösung auf ganz unterschiedliche Art.
Ich erinnere heitere Stunden, in denen ich durch Drücken von A, B und dem Steuerkreuz einen kleinen Klempner über Ebenen und durch Röhren jagte; irgendwann sollte es ein intergalaktischer Kopfgeldjäger sein, den ich schießwütig durch die Galaxis steuerte. Mit der Zeit waren auch Ironie und Sarkasmus nicht mehr nur bloße Fremdworte in meinen Ohren. Ein blonder Möchtegern-Pirat gewann mein Herz.
Zeitsprung: Mit den Jahren kam die spielerische Erfahrung, das Allgemeinwissen wuchs – zumindest ein wenig – und neuerdings sollen von technischer Seite sogar grafische Orgien in 4K-Auflösung möglich sein. Der Hang zu immer mehr sorgt bei Spielenden für gelegentlichen Missmut. „Schon dagewesen!“ tönen die Einen, „Ein Abklatsch von Hier-bitte-bekannten-Titel-einfügen!“ die Anderen, ein weiterer Teil der Spielerschaft bleibt auf der Strecke, weil das neue Call of Battlefield: Guerilla Gardening zu hardwarehungrig ist.
Aber nicht nur Alex und andere Spielende wissen, dass ein stetiges Mehr mit Noch-ein-Schippchen-obendrauf-Mentalität nicht der einzige Weg in Sachen Spielentwicklung sein kann. So feiern in regelmäßigen Abständen kleinere Entwicklerstudios Erfolge, indem sie teils aus monetären, teils aus nostalgischen Gründen technisch weniger fordernde, jedoch nicht zwangsläufig liebloser gestaltete Spiele unter dem Allerweltssiegel „Indie Game“ veröffentlichen. Der Erfolg dieser Spiele hängt meist mit einem Aspekt in der Ausgestaltung zusammen: Sei es ein großartiger Soundtrack wie in Dennaton Games‘ Hotline Miami, ein kunterbunt-komplexes Leveldesign wie Polytrons FEZ oder andere ursprünglich unabhängig entwickelte Spiele. Ein Spiel wie Playdeads Limbo, das klassisches Jump’n’Run mit einem vergleichsweise selten umgesetzten Trial&Error-Prinzip verbindet, sticht aus der Masse der Indie-Platformer natürlich deutlich hervor und weiß laut Metakritiken – trotz der üblichen Kontroversen um Preis-Leistung und Schwierigkeitsgrad-Balancing – zu überzeugen.
Nowhere Studios‘ Erstlingswerk Monochroma muss sich nun entsprechend an Spielen messen, die alle auf ihre Art glänzen und versuchen, sich durch eigene Höhepunkte zu profilieren.
Der Titel Monochroma ist gewiss kein Zufall. Die Spielwelt präsentiert sich mir in Schwarz, Weiß, Graustufen und 2,5D – einer Mischung aus gezeichnetem Sidescrolling-Hintergrund und dreidimensional animierten Figuren und Elementen im Vordergrund. Mitsamt der düster wirkenden Soundkulisse und der getragen wirkenden Titelmelodie weiß die oft als „unbunt“ bezeichnete Gestaltung durchaus den stimmigen Grundtonus des Film Noir zu evozieren, jedoch mit einem Haken – und der ist Rot.
Der metaphorische Aufhänger ist die Farbe, die mir immer wieder begegnet. Der Junge ohne Namen hat einen roten Schal um den Hals und bekommt so einen Charakter unterstellt. Ich fühle mich an Frank Millers Sin City erinnert; Comics, in denen eine zentrale Farbe allein durch ihre Präsenz in einer sonst schwarz-weißen Welt zentrale Elemente einer Geschichte markiert. Während ich noch auf diese Art des Einsatzes hoffe, unternehme ich einen ersten kleinen Anlauf ins Gameplay.
„The story takes places in an alternate version of the 1950’s where there is a huge company selling robots to the people in a fantastic city. You are playing the big one of two brothers. On the night that your brother gets injured and you are seeking help around, caught in a storm, you find yourself in a warehouse and reveal an awful secret about that company.“ (Nowhere Studios)
Die Problemstellung offenbart sich kurz nach Start: Ich lasse meine Figur mit vermeintlich simpler Steuerung (Pfeiltasten zum Bewegen und Springen, zwei Zusatztasten für andere Aktionen) über ein Feld flitzen. Ein kleiner Junge, der benannte Bruder, lässt im Hintergrund einen Drachen steigen. Er kracht auf der Suche nach seinem davongewehten Papierdrachen durch ein Scheunendach und verletzt sich. Und fortan muss er umständlich im Huckepack auf dem Rücken meiner Figur transportiert werden. Doch wohin? Anscheinend irgendwohin, wo es Hilfe gibt. Aber die Reise führt meine Figur durch Lagerhallen, Häfen, entvölkerte Stadtschluchten, per Boot und Ballon über Gewässer und Abgründe. Angeblich gibt es ein Ziel, aber dieses scheint dann doch wieder nicht erreichbar, gemessen an den durchquerten Levels.
Meine Vermutung, dass zentrale Elemente per Colorkey-ähnlichem Effekt hervorgehoben werden, wird zuerst bestätigt, jedoch bricht dieses gedankliche Konstrukt schon kurz darauf wieder in sich zusammen.
Während ich an der einen Stelle im Spiel auf Gegner treffe, die rote Pullis tragen, sehe ich an der anderen in einer Stadt rotgefärbte Markisen. Und rote Blinklichter. Jedoch hat keins davon in irgendeiner Art und Weise mit dem Spiel zu tun. Der Rot-Gebrauch wirkt so beliebig wie in diesem Satz. Kurz darauf jedoch erblicke ich am fernen Horizont eine wehende rote Fahne mit weißem Kreis und schwarzem M darin. Mein Magen krampft sich kurz zusammen, zu präsent sind aus zahlreichen Geschichtsstunden, Antikriegsfilmen und Spätabenddokus die die Swastika-Symbolik missbrauchenden Flaggen des NS-Regimes. Die Dystopie-Dimension des 1950er-Settings bekommt doch einen etwas anderen Charakter. An wieder anderer Stelle wird die Bedrohung sogar noch deutlicher, als ich meine Figur mit Bruder auf dem Rücken durch das zitierte Lagerhaus flitzen lasse: Scheinbar werden in der Gesellschaft, in der mein Protagonist (und sein verwandter Ballast) aufwachsen, menschenverachtende Experimente durchgeführt. Was für welche? Schwer zu sagen, ich sehe zwar anthropomorphe Gestalten leblos in Behältern mit Flüssigkeiten schwimmen, doch genau in jenem Moment versuche ich zeitgleich, mein mehr oder weniger dynamisches Duo vor dem Häscher im roten Pulli zu retten. Es dauert keine zehn Sekunden, und ich blicke auf einen schwarzen Bildschirm. Weil der große Muskelmann das Bruderpaar erwischt hat. Mein Headset verkündet das, was ich fortan den Todes-Tusch nenne: Eine kurze Disharmonie, die das Ableben der Spielfigur verkündet.
Warum hat der rote Muskelmann das Bruderpaar erwischt? Wegen dem größten Manko des Spiels – der einfachen, aber verdammt hakeligen Steuerung in Verbindung mit den stellenweise abstrusen Savepoints. In dieser Spielsequenz habe ich den schwarzen Screen des Todes gefühlte zweiunddrölfzehn Mal gesehen, mein Headset musste ich mittlerweile weglegen. Immer und immer wieder bleibt meine Figur an kleinen Kanten oder Absätzen hängen, die kaum größer sind als zwei Pixel. An anderem Ort verpasse ich den rettenden Vorsprung um eben diese zwei Pixel. Neustart um Neustart nehme ich neuen Anlauf und zermartere mir das Hirn. Leider nicht über die Puzzles, die für erfahrenere Puzzler recht schnell durchschaubar sind, sondern über den optimalen Zeitpunkt für den lebensrettenden Tastendruck.
In der Zwischenzeit habe ich systematisch alle potentiellen Fehlerquellen ausgeschlossen. Die Batterien in Tastatur und Maus sind frisch. Das Spiel läuft ruckelfrei. Nichts kann den Spielspaß theoretisch hindern. Und dennoch: In meiner Spielerkarriere war ich bereits einigen Situationen ausgesetzt, in denen ich mit einem gigantischen „What the f…?!“ auf den Lippen meinen Schreibtisch durchs Zimmer werfen wollte. Manches Mal habe ich den Eindruck, dass die Steuerung mich genau dazu verleiten will. Gerade, wenn man minutenlang auf einer schwimmenden Kiste balancierte, berührt meine Figur kurz vor dem rettenden Sprung mit einer Fußspitze die Wasseroberfläche. Exitus. Neustart mit mehreren Sekunden Wartezeit. Minutenlanges Balancieren. Sprung. Zwei Pixel zu kurz. Exitus. Neustart mit mehreren Sekunden Wartezeit. Minutenlanges Balancieren. Eine Nanosekunde zu lange auf eine Richtungstaste gedrückt. Exitus.
Was in meinen Augen ähnlich wie Limbo zu einem konventionellen Trial&Error-Game werden sollte, verschenkt somit durch seine (in der von mir gespielten Version bereits verbesserte!) Steuerung jede Menge Potential. Denn gerade diese Ungenauigkeit entzieht Monochroma den Geschicklichkeitsfaktor fast vollständig und lässt das Fortkommen an manchen Stellen fast arbiträr wirken. Will ich jetzt gerade noch vorwärts kommen, schwanke ich zwischen Aufgeben und gefrustetem Tastaturzertrümmern. Doch in Anbetracht meiner virtuellen Vergangenheit obsiegt der Stolz.
Monochroma ist dennoch ein spannendes Spiel voller Kontraste und mit Ecken und Kanten, das hier und da durch seine Puzzles zu fordern weiß. Rein konzeptionell als auch visuell lässt sich die Limbo’sche Inspiration nicht abstreiten. Herausgekommen ist ein im Ansatz guter und klassischer Puzzle Platformer, der seine narrative Idee besser hätte präsentieren können. Doch um die erzählerische Struktur zu betonen, hätte das Colorkeying gezielter und konsequenter genutzt werden müssen. Nowhere Studios verschenken durch zu wenig Information über die Hintergründe einiges vom vorhandenen Potential zur ‚Indie-Perle‘; hingegen sind der schwermütige Soundtrack und die spannende Vertonung für ein Spiel, das komplett ohne Dialoge und Sprachausgaben auskommt, überaus gelungen. Zumindest wenn man zudem noch ausblendet, dass man dank der Steuerung – die frappierend an die Auswegslosigkeit von Russisch Roulette mit einer halbautomatischen Pistole erinnert – viel zu häufig den Tusch des Todes zu hören bekommen und auf den Neustart warten wird.