Amnesia: A Machine for Pigs – (Ver)fütterung der Armen

von Pascal Wagner

Ein Gott aus Stahl und Dampf, so bezeichnet der viktorianische Industrielle Oswald Mandus den Kern seiner Meat Processing Company: eine Maschine zur Wurstherstellung, so groß wie eine ganze Stadt und tief in den maroden Kern Londons gebohrt. Ein ganzheitlicher Fleischwolf, der das Schlachtvieh von der Geburt bis zur Pelle begleitet. Das Nutztier wird darin geboren, gemästet, narkotisiert, geschlachtet und verwurstet. Die Maschine ist so effizient, dass sie abseits ihrer Instandhaltung und Reinigung keinen menschliche Eingabe erfordert. Sie spuckt so viel Wurstbrät aus, dass die blutige Masse in Strömen und Fluten durch die Innereien der Fabrik pulsiert. Mit anderen Worten: Die Mandus Processing Company funktioniert wie ein konventioneller Fleischerei-Großbetrieb in Oberbayern.

“Sauberes“ Fleisch?

Was ist in meiner Wurst? Auch das ist eine Frage, die man an jede süddeutsche Naturdarm-Befüllfabrik richten könnte. Wenn niemand mehr hinsehen braucht, was eigentlich in die Pelle kommt, dann sieht auch irgendwann niemand mehr hin. Mandus verarbeitet Schweine – A Machine for Pigs, wie der Titel sagt. Aber wer hätte geahnt, dass es von der Perspektive abhängt, was ein Schwein ist, und wer ein Mensch ist? Mandus ist ein Fanatiker, ein Doomsday Prophet. Nach einer schrecklichen Krankheit auf einer Mexikoreise vermischen sich in seinem Kopf die Faszination aztekischer Menschenopfer mit Halluzinationen, die an Zukunftsvisionen heranreichen. Das neue Jahrhundert, das zwanzigste, darf niemals anbrechen, davon ist Mandus überzeugt, da er in seinen Träumen seine beiden Söhne in den Gräben des Great Wars – des ersten Weltkriegs – an der Somme verenden sieht wie die Schweine im Schlamm ihrer Ställe. Deshalb muss die Menschheit brennen, ausgelöscht werden, und dafür braucht es einen Gott. Einen, der weniger gütig ist als Christus. Und was böte sich im Zeitalter von Stahl und Dampf besser an als ein Gott aus selbigem. Ein grausamer Gott, der in so viel menschliches Blut getränkt aufersteht, dass er willig ist, sich noch mehr davon mit Gewalt zu besorgen.

Die Grenze zwischen Massenschlachtung und Massenvernichtung

Eine Maschine, die das industrielle Töten von Schlachtvieh perfektioniert hat, ist nur wenige Handgriffe davon entfernt, das Töten von Menschen zu übernehmen. Doch Mandus opfert keine Menschen. Denn „Menschen“, das sind diejenigen beseelten, verständigen Lebewesen, die erst später, durch das Feuer der Reinigung, in den Himmel gehoben werden sollen. Mandus opfert Schweine. Herdengetriebene Säugetiere mit viel Fleisch, Fett und Blut, die köstliche Wurstprodukte hergeben. In Mandus‘ Perspektive beschränkt sich diese Beschreibung jedoch nicht auf eine bestimmte Gattung von Sus scrofa domesticus, dem gemeinen Hausschwein. Es ist eine Lebenseinstellung, die er in den Armen wiederzufinden glaubt. Und so lockt er Bettler, Tagelöhner, Waisenkinder und Prostituierte durch die wohltätige Vergabe von kostenlosen Wurstmahlzeiten und Schlafplätzen in die Gedärme seiner Fabrik, wo sie mithilfe von Drogen dumpf und willig gemacht und mit der technologisierten Magie seines maschinellen Gottes in humanoide Schweine umgeformt werden. Sind sie schließlich fett genug, so werden sie gemeinsam mit den ‚echten‘ Schweinen gewolft.

Die Fabrik frisst ihre Bewohner. Tagelöhner, die auf den oberen Ebenen Kohle schaufeln, landen genauso irgendwann im Kessel wie die Waisenkinder, die aufgrund ihrer kompakten Größe in die glühend heißen Rohre geschickt werden, um Fettablagerungen aus den Ventilen zu schrubben. Nur die Facharbeiter, die gut ausgebildeten, trifft es nicht. Sie, seine ‚loyal workers‘, lässt Mandus niemals die unteren Ebenen der Maschine betreten. Die Maschine frisst ihre Arbeiter und spuckt nur die Ingenieure wieder aus. Die Industrialisierung der Produktionsbetriebe und die Industrialisierung der Tötung gehen in A Machine for Pigs Hand in Hand. Darauf trifft ein Religionsgedanke, der einen institutionalisierten Glauben ausschließlich als Werkzeug des Glaubensoberhaupts sieht, um seine eigenen Ziele zu erreichen. Mandus versucht, angetrieben durch die nuancenlose Skepsis der Aufklärung und mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts die Sünden des 20. Jahrhunderts zu verhindern, indem er die Menschheit auslöscht, bevor sie den ersten Weltkrieg beginnen kann – und greift dabei vor zu den Methoden des zweiten Weltkriegs, womit er noch schrecklichere Sünden begeht, als in seinem Fieberwahn je hätte voraussehen können. In seinem Versuch, die “Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ zu verhindern, hat Mandus eines der Werkzeuge der Shoah erfunden und mit dessen Hilfe den Raubtierkapitalismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts verfrüht erschaffen.

Wir Aristokraten über denen, die arbeiten

Eine der Schlüsselpassagen, um Mandus zu verstehen, findet sich nicht in A Machine for Pigs, sondern im herunterladbaren Zusatzinhalt Justine für den Vorgänger, Amnesia: The Dark Descent. “The aristocracy doesn’t need to know right from wrong. We are always right“ statiert Justine Florbelle in dem von Valve in Auftrag gegebenen Portal Tie-In, das die Grundstruktur von Valves First Person Puzzler in ein Horrorspiel übersetzt. Justine als Tochter des Adels und Mandus als Industriemagnat, einem de facto-Aristokraten des ausklingenden neunzehnten Jahrhunderts, haben jeden Bezug zu gesellschaftlich verhandelten Moralitätsstandards verloren, wenn sie ihn je hatten: Die junge Justine durch die jahrelangen psychologischen Tests durch ihren Vater, der vermeintlich gemeinwohle Mandus spätestens durch sein in Mexiko zugezogenes Fieber und die Vision des Great War. Justine steht dabei gar stellvertretend für den Marquis de Sade, Autoren der Novelle Justine, an der sich der gleichnamige Zusatzinhalt konzeptuell bedient, und der einen solchen aristokratischen Amoralismus in seinen Werken verkörperte, die schließlich dem Sadismus seinen Namen gaben. 

Justine ist gleichermaßen sadistisch und masochistisch, wenn sie sich selbst immer wieder mit Bromid vergiftet, um in der nachfolgenden temporären Amnesie ihre Menschlichkeit an in Todesfallen gesperrten Männern testet.  Mandus hingegen ist kein Sadist. Er nimmt kein Leid wahr, dass er anderen zufügt, und an dem er sich erfreuen könnte, denn in seinen Augen verspürt kein “Schwein” mehr Schmerzen als ein gewöhnliches Insekt.

Läuterung nur bei persönlicher Betroffenheit

Erst durch die Konfrontation mit seiner eigenen schrecklichsten Tat, dem Zündfunken seines Höllenmotors, findet Mandus über die die Reue zu einer Art moralischem Verstand zurück. Denn dass der ganze dämonische Komplex der Maschine durch die beiden herausgerissenen Herzen seiner kleinen Söhne betrieben wird, dessen wird sich auch der amnesierende Mandus erst gewahr, als er den an eine aztekische Opferpyramide erinnernden Schrein im Herzen der Maschinerie betritt. Obwohl sein Entschluss, der Gottheit ein Ende zu setzen, schon zuvor gereift war, bringt Mandus erst jetzt zu Ende, was getan werden muss. Mandus muss sterben, damit die Menschen zermahlenden Zahnräder seiner Fabrik zum Stillstand kommen. Sein eigener möglichst qualvoller Tod sorgt für eine Minimierung des Leids derer, die er zuvor zu unglaublichen Qualen verurteilt hat. In diesem negativen Utilitarismus greift A Machine For Pigs erneut den Minimierungsgedanken der Todesqualen in der nationalsozialistischen Vernichtungslagern auf: Die effiziente, industrielle, schnelle Tötung unzähliger Lebewesen ist nicht human und sie vermindert kein Leid, sie verursacht es. Mandus’ einzig moralische Handlung besteht in der Abschaltung der Maschinen. Und dafür muss er selbst qualvoll verenden, in einer noch zynischeren Interpretation des Vorgangs, mit dem er Menschen zu Schweinen macht. In einem offenbar genau zu diesem Zweck gestalteten Operationsstuhl im Zentrum des Schreins lässt sich Mandus von mechanischen Armen ausweiden. Die Maschine kommt zum Erliegen, London findet seine Ruhe. Das zwanzigste Jahrhundert bricht mit dem ersten Glockenschlag der Mitternacht des Silvesterabends 1899 an. Mandus‘ Kinder erleben das neue Zeitalter in einer morbiden Erfüllung seiner Hoffnungen nicht. Sie werden, wie ihr reicher Vater, im Laufe der Zeit mit den Trümmern der Maschine und dem Fleisch in ihren Rohren verschmelzen und ein neues Fundament für die Hauptstadt der Industrialisierung formen. Niemand wird das Fleisch der Manduses je konsumieren, und doch hat die Fabrik ihren reichen Inhaber wahrlich gefressen. Eat the rich, feed the poor.

Pascal Wagner hat einen M.A. in kultureller und kognitiver Linguistik sowie einen B.A. in Anglistik und Rechtwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München absolviert. Er ist Gründer des Game Studies- und Wissenschaftskommunikations-Blogs languageatplay.de und Chefredakteur des Printmagazins für Videospielkultur GAIN – Games Inside. Auf Twitter ist er als @indieflock zu finden.

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