Im richtigen Leben verbringe ich einen Teil meiner Freizeit oft scheinbar untätig herumsitzend und beschränke meine Bewegungen auf Tastendruck und Mausklick. Virtuell renne ich Marathondistanzen, robbe durch den Matsch, schärfe meine Sinne, suche den Kick in schnellen Bildabfolgen. Bis vor kurzem. Denn seitdem liege ich auch in einem Computerspiel scheinbar untätig herum. Und habe in einer virtuell-dystopischen Umwelt ganz reale Angst.
Während ich über den Feldweg laufe, schaue ich mich um. Natur, wohin man sieht. Vogelgezwitscher. Wind pfeift durch die Baumkronen, die sich leicht hin und her wiegen. Idylle.
Bis jetzt war es ein guter Tag. Am Nachmittag fand ich eine neue Jacke, die mich vor dem derzeit wechselhaften Wetter schützt, ein paar größere Taschen hat und nicht so auffällig ist wie die, die ich bis dahin trug. Was mich bewogen hat, eine knallorange Regenjacke zu tragen? Vielleicht die Alternativlosigkeit. Bei Regen im T-Shirt raus? Ganz sicher nicht.
Es könnte immer besser laufen, aber ich bin zufrieden: Meinen Hunger konnte ich eben erst mit Nudeln befrieden, ein Softdrink hat meinen Durst gestillt.
Der Feldweg führt mich zu einer geteerten Straße, an deren Ende ein blaues Gittertor in einen Zaun eingelassen ist. Das Tor ist halb offen, ein Schild steht an der Straße. Mein Kyrillisch aus der Schulzeit ist – ähnlich dem Schild – etwas eingerostet, aber ich entziffere grob, dass es sich um ein Flugfeld handelt. Im Maschendraht neben dem Tor klafft ein Loch. Ich denke nicht lange nach, sondern steige durch das kaputte Drahtgeflecht und kneife die Augen zusammen. Dort drüben stehen Gebäude. Zwei Gestalten spazieren dort vorbei, langsam, tagträumerisch, harmlos. Ansonsten ist alles ruhig und reglos. Friedlich.
Noch während ich mich frage, was es dort geben mag und wie ich die Interaktion mit den Walkern vermeiden kann, fallen die ersten Schüsse in der Ferne. Die Kugeln schlagen irgendwo neben mir ein. Mein Herzschlag erhöht sich innerhalb von Sekundenbruchteilen. Ich renne geduckt zum nächsten Baum, werfe mich nieder. Drei olivgrün gekleidete Menschen rennen auf die Gebäude zu und tragen Waffen im Anschlag. Meine Position ist günstig, ich kann die Deckseiten des vergitterten Gebäudes voll einsehen und bin durch Bäume und Sträucher halbwegs geschützt. Die Walker sind aufgescheucht und nehmen Witterung auf, wanken auf die Gebäude zu. Weitere Schüsse fallen. Ich will meine Jacke und alles, was ich bei mir trage, noch etwas länger behalten. Mit einem metallischen Klicken lade ich mein Gewehr durch und blicke durch das Zielfernrohr. Ich warte.
Was im ersten Moment wie die Beschreibung eines freien Tages mit Spaziergang und Einkaufsbummel klingen mag, bekommt spätestens bei näherer Betrachtung des blechernen Schildes am Tor einen bekannten, ganz faden Beigeschmack. Taktikshooter wie die aus den Serien Call of Duty: Modern Warfare, Tom Clancy’s Ghost Recon oder auch Armed Assault haben mein Spielempfinden nachhaltig geprägt. Das Feindbild ist definiert, die Stiefel sind geschnürt, die Sturmgewehre geladen. Abmarsch aufs virtuelle Schlachtfeld. Fast kanonisch wurde mir eingebläut: Steht Kyrillisch drauf, ist überwiegend Böse drin.
Im Singleplayer-Modus gilt es, die Story mit Überraschungen, Herausforderungen und KI-Gegnern zu erleben, perisowjetische Machtverhältnisse zurückwünschende Terrorgruppen oder postsowjetisch profitierende Mafiabosse auszuschalten; in einem der zahlreichen Multiplayer-Modi stehen ganz im Sinne des e-sportlichen Gedanken Eroberungen, gegenläufige Missionsziele und Ranglisten im Vordergrund. Eigentlich kein Zufall also, dass auch ArmA 2 mit dem Motiv eines Konflikts im pseudosowjetischen Staat ‚Tschernarussland‘ spielt.
Wenngleich Spielende in den meisten Taktikshootern das übergeordnete Ziel haben, mit ihrer Figur möglichst unbeschadet Ziele zu erfüllen, findet bereits in ArmA 2 eine Neugewichtung statt: Bereits mit einem einzelnen Treffer kann die eigene Figur einen Großteil ihrer Handlungsfähigkeit einbüßen, im schlimmsten Fall scheitert die gesamte Mission. Frontalangriffe führen selten zum Erfolg – die Evaluation der Situation gewinnt an Bedeutung.
Was ändert sich, wenn ein privater Entwickler nun dieses Prinzip als Basis für sein eigenes Multiplayer-Spiel verwendet? Erst einmal nicht viel. Wenn dieser Entwickler – Dean Hall – allerdings den kompletten Multiplayer-Modus neu strukturiert, sieht die Sache schon wieder anders aus. Mit (mehr oder weniger intelligenten) KI-Gegnern an Bord wurde so im Juni 2012 die erste Version der ArmA 2-Modifikation DayZ zum Download angeboten. Im Dezember 2013 wurde DayZ erstmals als Standalone-Version auf Basis der ArmA 3-Spielengine als Early Access Alpha via Steam verkauft.
Der Geschichte hinter DayZ ist denkbar einfach und hat auch in der Popkultur im Laufe der letzten Dekaden großen Anklang gefunden: Der größte Teil der Weltbevölkerung wurde aus meist virulentem Grund ausgelöscht und existiert nur noch als Schar untoter Wiedergänger, die auf der Suche nach Menschenfleisch ist. Das ursprüngliche Setting des osteuropäisch anmutenden Staates dient in seiner Aufmachung nur der deutlichen Konstitution von Tristesse: Verfallene Wohnblocks mit kaputten Fenstern, Schutthaufen und ausgebrannte Autowracks wecken Erinnerungen an Szenen aus The Walking Dead, 28 Days Later und World War Z.
Kaum öffne ich die virtuellen Augen in der Standalone-Version, stelle ich fest: Im Gegensatz zum gewöhnlichen Shooter starte ich nicht voll ausgerüstet. Ich habe eine Taschenlampe, Sportschuhe, Jeans und T-Shirt, mehr nicht. Aber was noch viel schwerer wiegt: Ich bin allein. Ohne den Schutz einer Gruppe, sei sie narrativ konstruiertes System oder kriegstaugliche Zweckgemeinschaft.
Das Spielprinzip wird in dem Moment am deutlichsten, in dem man am verletzlichsten ist: Vorrangiges Ziel meiner Hauptfigur (respektive Spielfigur) innerhalb der medialen Aufbereitung ist dabei das eigene Überleben. Die Assoziation mit den ‚Hardcore‘-Modi mancher Spiele liegt nahe, wobei diese jedoch meistens nur zur Herausforderungssteigerung nach Abschluss einer vorausgehenden Schwierigkeitsstufe dienen. Mittlerweile weiß ich: Die Schwierigkeitsstufe von DayZ generiert sich weniger aus Loot, dem gefundenen Equipment, dafür umso mehr aus den realen Mitspielern.
Auf der Suche nach Nahrung, Waffen und Schutz vor Umwelteinflüssen treffe ich auf Untote, auf die Weite eines entvölkerten Landes – und auf andere Spieler.
Letztere eröffnen den spannendsten Aspekt in DayZ : das interaktive soziale Spannungsfeld, den Zwiespalt zwischen Miteinander und Gegeneinander, Vertrauen und Misstrauen, das die Sicherheit der eigenen Figur maßgeblich gefährdet. Bewusst wurde mir dieses Paradox, als ich dem ersten ‚leibhaftigen‘ Gegenspieler gegenüber stand. Ich senkte die Flinte, die ich in der Zwischenzeit in einer Blockhütte irgendwo in der Pampa gefunden hatte, drückte die Taste zur Ingame-Voice-Kommunikation und fragte: „Are you friendly?“
Die letzten zwei Silben sprach ich allerdings nicht mehr in Richtung des Spielers, der in voller Militärmontur vor meinem Alter Ego stand, sondern zum schwarzen Bildschirm mit der Aufschrift „You are dead“.
Ich hätte mir denken können, dass man einen Spieler mit einer Waffe als Bedrohung empfinden könnte. Ich steuerte ins Hauptmenü, klickte auf „Play“.
Bei der zweiten Begegnung mit menschlicher Intelligenz traf ich einen Verbund von drei Spielern. Ich trug einen Revolver in meinem Holster, der mir durch den Munitionsmangel zu nichts Nütze war und hatte den Rucksack voller Konservendosen, die mich über Tage hätten ernähren können. Man begrüßte mich mit „We’re friendly, but cautious. Please put down your gun.“, und fesselte meine Figur mit Handschellen. Nachdem man meine Figur mit verrottetem Obst gefüttert hatte, schoss man mir eine Kugel in die Beine und ließ mich würgend und blutend auf einem Feld liegen. Innerhalb ein paar qualvoller Minuten graute mein Bildschirm aus und wurde letztlich schwarz, verkündete zuerst mit der Meldung „You are unconscious“ die Bewusstlosigkeit meiner Figur. Kurz darauf fragte ich mich beim Betrachten der schwarz hinterlegten Todesmeldung, was Psychologen und Soziologen aus dem Verhalten der anderen Spieler herauslesen würden. Abermals schob ich den Mauscursor über den roten „Play“-Knopf.
Beim dritten Anlauf justierte ich meine persönlichen Spielziele schließlich neu: Von ‚erstmal Mitspieler finden‘ zu ‚so lange wie möglich unsichtbar bleiben, taktisch denken und irgendwie überleben‘. Jeder spielt für sich allein. Ich bin nun ein postapokalyptischer Einzelkämpfer.
Die Unberechenbarkeit und die damit einhergehende immerwährende Unsicherheit führten zu einer Anpassung meines Spielverhaltens. Ich bewege meine Figur immer in der Nähe von Erhebungen in der Landschaft: Büsche, Felsen und Bäume werden zu immobilen Verbündeten.
Mein Ehrgeiz ist gepackt, und das Erleben des Spiels wird sprunghaft spannender, sobald ich eine Figur entdecke, die von einem Mitspieler gesteuert wird. Das Spiel hat mich und verschafft mir kleine Adrenalinkicks – wie auch jetzt, als meine Figur mit der grünen Regenjacke und dem Scharfschützengewehr am Rand des Flugfeldes auf einem Hügel liegt.
Es sind mittlerweile fast dreißig Minuten vergangen, in denen ich meine Figur nicht bewegt habe und sich auf dem Flugfeld nichts getan hat. In der Zwischenzeit hat die Spielmechanik eingegriffen und neue Untote auf dem Flugfeld verteilt. Würden sie gezielt in eine Richtung laufen, wäre dies eine untrügliche Reaktion der künstlichen Intelligenz auf virtuell-menschliche Bewegung. Wahrscheinlich haben die drei Spieler die Situation genutzt, haben ihre Ausrüstung aufgestockt und sind wieder geflüchtet. Niemand will in diesem Spiel länger als irgend notwendig in Gefahr schweben.
Nochmal gute zehn Minuten später kniet mein Digital-Ich neben einer Garage am Rande des Flugfelds. Den Weg hierhin hat es kriechend zurückgelegt, um Zombies und potentiellen anderen Spielern nicht sofort ein Ziel zu bieten. Aber es ist ruhig, bis auf den plätschernden Regen, der zwischenzeitlich eingesetzt hat und auf den Asphalt trommelt. „You are getting wet“ lautet die entsprechende Systemmeldung.
Als ich mit Tastendruck die Garagentür öffne, verfalle ich vor dem Monitor in Schockstarre. Ich sehe drei Gestalten im Dunkel kauern. Mündungsfeuer blitzt auf. Schwarzer Bildschirm. Bewusstlosigkeit. Bewegungsgeräusche.
Während ich auf das Versterben meiner Figur warten will, höre ich über die Direktkommunikation eine Stimme.
„Scheiße, tut mir leid, Mann! Warte, wir flicken dich wieder zusammen. Brauchst du etwas? Verdammt, tut mir echt leid, ich hab mich mega erschreckt.“
An diesem Tag holt Björn meine Figur zurück ins Leben. Seit diesem Vorfall bin ich in wechselnden Konstellationen mit ihm, Andi, Alex, Tobi, Dirk und weiteren Mitspielern in den Weiten Tschernarusslands unterwegs. Dabei ist es egal, ob die Sonne auf Tschernarussland scheint, oder es stockfinster ist und regnet. Wir haben einander kennen gelernt und vertrauen einander, wenn es um den gegenseitigen Schutz des virtuellen Selbst geht. Um Ausrüstung und Nahrung zu beschaffen, um andere Spieler entweder zu treffen oder zu umgehen. Und – wie wir ein wenig peinlich berührt zugeben mussten – um unsere virtuellen Existenzängste in der Gruppe minimieren zu können, indem wir gemeinsam regungslos zwischen Pixelbüschen und -baumstümpfen herumliegen und warten.