Life is Strange: Die Ohnmacht der Jugend

Kopfhörer aufsetzen, die Welt mit der Akustik-Gitarre bremsen und dann den Schulflur entlang. Die egozentrischen Kids, die Sportler und Schönlinge, die Geeks und all die Unscheinbaren. Life is Strange versetzt mich in eine Zeit zurück, in der man noch zu träumen wagte. Von einem Glück, das irgendwann danach kommen mag. Von einer Erfüllung, die, wenn das Alles erstmal vorbei und man endlich frei ist, dann bitte auch eintritt. Von einem Versprechen trügerischer Ideale.

„Du hast mit 12 zu Stand by me geweint
und mit 14 bei den Outsidern Rache geschworen;
mit 16 kanntest du den Namen vom Feind
und mit 18 hast du ihn wieder verloren.“

Muff Potter – Young Until I Die (Heute wird gewonnen, bitte; 2009)

Und doch bringt diese eindringliche Nostalgie auch ein längst vergessenes Unbehagen zurück; wie damals allem eine gewisse Befremdlichkeit anhaftete, wie einem im Klassenzimmer die Gedanken aus dem Fenster flossen und die Parties am Wochenende Dreh- und Angelpunkt des Weltgeschehens zu sein schienen. In exakt jener Phase steckt Max. An der Blackwell Academy konnte sie ihre Berufung, die analoge Fotografie, zum Beruf machen und studieren. Doch das episodische Adventure wäre wenig abenteuerlich, wenn es nicht gleich das mysteriöse Verschwinden der schönen Rachel zum Thema hätte und wenn nicht alsbald ein tosender Tornado auf die Stadt zuraste – zumindest in Max‘ Visionen.

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So ganz beieinander ist sie nämlich nicht mehr, nachdem ihr auffällt, dass sie scheinbar die Fähigkeit besitzt, die Zeit zurückzudrehen. Während Titel wie Heavy Rain (Quantic Dream, 2010) oder The Walking Dead (Telltale Games, 2012) nun auf die gnadenlose Konsequenz beinharter Entscheidungen setzen und die Spielenden mit moralischen Unwägbarkeiten konfrontieren, erlaubt Life is Strange es, die Zeit beliebig zurückzudrehen und Dinge ungeschehen zu machen. Der Vergleich, insbesondere mit The Walking Dead, liegt an der Oberfläche nahe; allerdings ist zu berücksichtigen, dass Life is Strange eben den Weg in die entgegengesetzte Richtung geht.

Scheitert etwa der Versuch eine Spielzeug-Drohne auf dem Campus von einer Mitstudierenden zu borgen an meinem Unwissen, durchwühle ich ihre Tasche, finde die Spezifikationen des unbemannten Flugobjektes heraus, drehe die Zeit zurück und begegne ihr mit gefüllter Wissenslücke erneut. #YOLO. Bei den großen, wichtigen Entscheidungen fügt diese Möglichkeit eine interessante Facette hinzu und dennoch fühlt es sich ein wenig falsch an; eben wie geschummelt. Dennoch macht die Zeitmanipulation als Kernelement durchaus Sinn, denn letztlich fühlt sich das gesamte Spiel an als habe man die Zeit zurückgedreht.

Wo Life is Strange mit technischer Finesse nicht punkten kann – Glitches, stacksige Bewegungen, fehlende Lippensynchronität in Dialogen – ist es Dontnod Entertainment dennoch gelungen, einen besonderen Stil auf den Bildschirm zu zaubern. Reduziert, fast als sei alles mit einem präkonfigurierten Photoshop-Filter belegt, hat die Atmosphäre dennoch etwas ausgesprochen Involvierendes. Mein persönliches Highlight waren hingegen die zahlreichen Referenzen auf die Geschichte der Fotografie und die moderne Pop-Kultur. Wenn Andy Warhol, Henri Bresson-Chartier und Salvador Dali so ausführlich eingebunden werden, dann hat der digitale Flaneur einiges zu begutachten.

Die Liebe zum Detail fließt aus den groben Pixeln und wenn José Gonzales aus der Stereo-Anlange im Wohnzimmer klingt, lässt sich dem Titel nur schwer die ein oder andere technische Ungereimtheit verübeln. Ich möchte die Charaktere zumindest ein klein wenig besser kennenlernen, wenngleich sie vorhersehbar und stereotyp sein mögen. Ich möchte vor allem nicht auf die noch kommenden vier Episoden verzichten; die zweite folgt ja bereits im März. Coming of Age-Geschichten gibt es zwar zuhauf, doch ist es bislang keinem digitalen Spiel gelungen, die nostalgische Beklemmung der juvenilen Ohnmacht so trefflich zu beschreiben wie Life is Strange.

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Über Stefan Heinrich Simond

Stefan Heinrich Simond (shs) publiziert und unterrichtet im Bereich der Game Studies am Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Er promoviert zur Konstruktion psychischer Krankheiten und psychiatrischer Institutionen in digitalen Spielen, ist Chefredakteur bei pixeldiskurs.de und hostet den wöchentlichen Pixeldiskurs-Podcasts.