Leibhaftigkeit in der Spielwelt

Dieser Artikel greift erneut die Darstellung von Architektur in Computerspielen auf. Wurde  an anderer Stelle letztendlich darauf verwiesen, was ‚sichtbar unsichtbar‘ verborgen in Architektur liegt und inwiefern Spieler/innen am World Building teilnehmen, wird Architekturdarstellung nun als ‚Radar‘ zur Verortung der Spieler/innen in Relation zur Spielwelt genutzt.


Grundsteinlegung

Städte sind von Architektur durchdrungen. Bauten werden geplant und errichtet, um letztendlich als Gebäude zum Wohnen und Arbeiten zu dienen, als Parkanlagen zum Spazieren einzuladen, als Denkmäler der Vergangenheit zu huldigen und als Straßen Orte zu verbinden. Dieser gebaute Raum lässt sich auf unterschiedlichen Maßstabsebenen betrachten: von kleineren Maßstäben wie dem gottähnlichen Blick auf eine ganze Stadt in Sim City (2013) bis zu großen Maßstäben der First-Person-Spiele. Der Maßstab bestimmt folglich das Maß an Distanz bzw. Nähe der Betrachter/innen zum gebauten Raum. Da in den folgenden Ausführungen die Nähe thematisiert wird, können alle Spiele wie Sim City unbeachtet bleiben, da Nähe zur Architektur zunächst über eine Spielfigur hergestellt wird. Unbestritten ist, dass man die Distanz auch in Sim City durch Heranzoomen reduzieren kann, doch aufgrund des Fehlens einer konkreten Körper-Repräsentation bleiben die Spieler/innen paradoxerweise dennoch von der Welt ausgeschlossen.

Doch bevor wir tiefer in unsere Fragestellung tauchen, schauen wir zunächst noch einmal kurz auf eine Linie der Entwicklung von Distanzüberwindung in der Architekturdarstellung. Dass Sim City Spieler/innen von der Architektur und damit von der Spielwelt distanziert, liegt zweifelsohne in der Zielsetzung dieses Spiels als auch anderen Vertretern dieser und ähnlicher Gattungen. Es soll nicht in der Welt gespielt werden, sondern mit ihr: Es geht darum, Ordnung in einem architektonischen Gefüge herzustellen, eine Stadt oder ein anderes größeres Ensemble an Bauwerken zu erschaffen oder mittels der Erschließung von Ressourcen möglichst viele militärisch geprägte Gebäude zu errichten, die in der Folge eine große Anzahl an Kampfeinheiten produzieren können – so wie es bspw. in Empire Earth (2001) der Fall ist. Das Erfahren von Nähe ist lediglich für das Beobachten der Vorgänge, die sich in der Welt vollziehen, relevant, nicht aber für das das Gewinnen des Spiels.

Der Blick vom Olymp herab auf die eigene Stadt in Sim City

Damit sind die drei zentralen Aspekte der weiteren Ausführungen genannt: subjektive Nähe zur Spielwelt und in die Spielwelt eingeschlossen sein, als auch das Verlassen der Beobachterrolle zugunsten einer aktiven Rolle in der Spielwelt. Das mag angesichts des Betrachtungsobjekts der Computerspiele zunächst irritierend klingen, wenn man bedenkt, dass das von ihnen geforderte Eingreifen in die Spielwelt ohnehin vermeintliche Nähe als auch Aktivität einschließt. Daher muss in einem ersten Schritt in aller gebotenen Kürze das Konzept der Nähe verdeutlicht werden. Nähe soll bis zu einem späteren Zeitpunkt als die visuelle Nähe verstanden werden, die sich unweigerlich an den Begriff der Perspektive bindet.

Unterschiedliche Architekturdarstellungen und damit diverse Perspektivierungen von Raum in der Spielwelt wurden bereits an anderer Stelle vorgestellt, sollen hier aber erneut zusammenfassend aufgegriffen werden, um die Argumentation zu verdeutlichen. Denn in Bezug auf World Buildung stellt sich die Frage, ob überhaupt ein Mehrwert in der Architektur- und Weltdarstellung in Computerspielen möglich sein kann. Und sollte es möglich sein, welcher Mehrwert wäre das? Denn man darf nicht vergessen, dass Computerspiele wie alle anderen Architektur darstellenden Medien – mit Ausnahme des Architekturmodells – nur auf eine flache Abbildungsfläche beschränkt sind. Zwar mag Ausdehnung in allen drei Raumdimensionen das heute dominierende Raumverständnis sein (Günzel 2012a: 23), doch auch eine plane, zeichnerische Darstellung kann als räumlich verstanden werden, wenn sie auf Raum verweist (Günzel 2012b: 16f.). Spinnt man diese Argumentation weiter, so scheint Dimensionalität weit weniger wichtig für Raum zu sein, als man vielleicht annehmen möchte. Daher soll auch die ‚null-dimensionale‘ Ekphrasis – die literarische Architekturbeschreibung – in der Folge nicht ausgeschlossen werden.


Von Worten zum Fluchtpunkt

Die Ekphrasis bleibt aufgrund ihrer Verwendung von alphabetischen und nummerischen Zeichen in ihrer Modalität abstrakt und spricht nicht den realweltlichen Erfahrungsschatz von Spieler/innen an. Klarer ausgedrückt: Architektur ist in der Wahrnehmung der Menschen keine Aneinanderreihung von Buchstaben oder Zahlen, sondern ein konstruiertes Gebilde. Die Ekphrasis strebt keine bildliche Darstellung von Architektur und der thematisierten Welt an. Anders verhält es sich bei Spielen, die zweidimensionale Parallelprojektionen nutzen, also Architektur im Aufriss, Grundriss oder auch Kombinationen dieser Raumdarstellungen abbilden. Allerdings wird durch den Fokus auf nur zwei Dimensionen (Höhe und Breite bzw. Breite und Tiefe) die dritte Raumdimension ausgeblendet. Zwar täuschen Spielereien wie Parallax-Scrolling eine räumliche Staffelung mehrerer Ebenen vor, doch diese Ebenen selbst sind wiederum lediglich plan und zweidimensional. Dieser Mangel der dritten Dimension kann zwar mittels einer axonometrischen Darstellung aufgehoben werden, da diese Darstellung den Blick auf Objekte von einer erhöhten Schrägansicht ermöglicht. Dennoch bleibt diese Dreidimensionalität der realweltlichen Wahrnehmungsmodalitäten fremd. Bewegungen im Raum führen nicht zu einer Verschiebung von Kanten: Parallele Kanten bleiben parallel, da sie nicht auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt streben.

Axonometrische Ansicht in Shadowrun (1993). Die erhöhte Schrägansicht simuliert zwar Dreidimensionalität der Architektur. Doch Kanten konvergieren nicht auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt.

Die nach Grau (2001) in allen Kunstgattungen erkennbare Tendenz der steten Annäherung an realweltliche Wahrnehmungsmodalitäten führte auch im Computerspiel zur Etablierung des Fluchtpunkts. Hier muss nun zwischen Perspektive und Raumdarstellung unterschieden werden. Denn Spiele mit Fluchtpunkten lassen sich in zwei Kategorien separieren: Third-Person- und First-Person-Spiele. Beide Kategorien operieren mit derselben Darstellungsweise, unterscheiden sich aber in der Perspektive. Diese Differenzierung mag irritieren, da Perspektive und Raumdarstellung in der Regel gemeinsam gedacht und synonym verwendet wird. Doch gerade die Gegenüberstellung von Third-Person-Spielen und First-Person-Spielen macht diesen Unterschied deutlich. Betrachten wir daher kurz die folgenden Abbildungen:

Fluchtpunkt-Konstruktionen in Assassin‘s Creed Syndicate (links) und in Mirror‘s Edge (rechts).

Sowohl in Assassin‘s Creed Syndicate (2015) als auch in Mirror‘s Edge (2008) steuern die Spieler/innen eine Figur durch eine zentralperspektivisch konstruierte Welt. Sie erfahren Selbstwirksamkeit durch die Eingaben in die Kontrollgeräte. Die Eingaben haben in beiden Spielformen Auswirkungen, die in einer Eingabe-Ausgabe-Schleife zu neuen Eingaben auffordern. Doch trotz Verwendung der Zentralperspektive ist das Third-Person-Spiel in seiner Konstruktion von Nähe mit den oben erwähnten Spielen, die Parallelprojektionen anwenden, identisch. Denn die Spieler/innen schauen von außen auf eine kontrollierte Figur: Die Figur ist ungleich den Spieler/innen.

Die realweltlichen Wahrnehmungsmodalitäten gestatten lediglich beim Blick in reflektierende Oberflächen wie Spiegeln den Blick auf den eigenen Körper im Hier und Jetzt. Der gespiegelte Körper ist jedoch ungleich dem eigenen Körper – ebenso wie die gespiegelte Welt ungleich der ungespiegelten Welt ist. Wirkliche Nähe zur dargestellten Welt lässt sich folglich nur über die Verankerung der Perspektive an ein sehendes Ich in dieser Welt erzeugen. An diese Verankerung bindet sich wiederum das Wechselspiel der Körperlichkeit der Spieler/innen vor dem Bildschirm und dem Spiel im Bildschirm – oder philosophischer ausgedrückt: Blickt das Spiel auf die Spieler/innen zurück? Ist sich das Spiel einer vor dem Bildschirm anwesenden Person bewusst? Werden die Spieler/innen in die Spielwelt integriert?


Mittendrin statt nur davor

Während Spiele mit einer Außenansicht der Spielfigur durch Eingabeaufforderungen zwar Spieler/innen durchaus stark motorisch und kognitiv involvieren können, bleibt die Spielwelt in sich geschlossen. Die vom Computer gesteuerten Elemente reagieren auf die Anwesenheit der Spielfigur, nicht aber auf die Anwesenheit der Spieler/innen selbst. Diese Spiele zentrieren sich um die Spielfigur, die erklärtermaßen nicht die Spieler/innen sind, und schließen damit die Person vor dem Bildschirm aus. Der Ausschluss der Spieler/innen erscheint paradox, werden sie dochüber das Interface – Joystick, Maus, Tastatur und dergleichen – dazu aufgefordert, am Spiel teilzunehmen.

Nach Garncarz (2012: 319) findet sich auch im modernen Film das Ausschließen der Zuschauer/innen von der in sich geschlossenen fiktionalen Welt als Paradigma, da sich der Blick der Schauspieler/innen in die Kamera – der im frühen Film nicht unüblich war – über die Zeit zum Tabu entwickelte. Der durch direkte Adressierung der Zuschauer/innen durch den Blick in die Kamera oder die direkte Ansprache erzeugte Bruch in der Vierten Wand (der imaginären Grenze von fiktionaler Welt und Zuschauerraum) ist zwar in heutigen Filmen vereinzelt noch immer anzutreffen, doch wird er in den meisten Fällen auf einer (meta-)reflexiven Ebene angewendet, wie in Funny Games (1997). Seltener wird die Perspektivierung direkt an eine Figur geknüpft, wie es in The Lady In The Lake (1947) oder Hardcore Henry (2015) der Fall ist.

Doch es gibt eklatante Unterschiede in diesen filmischen Perspektivierungen: Funny Games referenziert durch den Blick in die Kamera die ontologische Differenz von Bildschirm und Zuschauerraum. Die Zuschauer/innen werden als Zuschauende entlarvt und sind damit nicht Teil der dargestellten Welt. Die Vierte Wand wird nur vom Bildraum aus durchbrochen. Hardcore Henry wiederum rekurriert auf Darstellungsweisen und Themen von First-Person-Shootern, wobei aber die Perspektive nicht an die der Spieler/innen, sondern an die Figur Henry gebunden ist. Obwohl die Zuschauer/innen durch die Augen Henrys schauen, sind es nicht sie, die handeln. Die bizarre Paradoxierung des Blicks durch Augen bei fehlenden Handlungsmöglichkeiten schließt die Zuschauer/innen aus der filmischen Welt aus. Henrys Filmwelt reagiert auf ihn, nicht auf die Zuschauer/innen. Trotz Perspektivübernahme bleibt der Zuschauer/innen-Blick ein Blick von außen auf das Geschehen. Hardcore Henry nutzt zwar die ‚richtige‘ Perspektivierung, dennoch fehlt das Maß an Nähe, das identisch perspektivierte Spiele erzeugen, da die Vierte Wand nicht wirklich durchbrochen wird.

Oben rechts und links: Harcore Henry; unten links: Battlefield 1 (2016); unten rechts: Mirror‘s Edge.


Leibhaftig im Spiel

Dieser kleine filmische Exkurs soll nur eines verdeutlichen: Die Perspektive als auch die Interaktion eines Texts mit den Rezipient/innen sind nicht zwangsläufig der Erzeugung von subjektiver Nähe dienlich. Vielmehr fließen in First-Person-Spielen zentralperspektivische Raumdarstellung, subjektive Perspektivierung und Handlungsmöglichkeiten zusammen. Hierdurch wird ein Raumkonzept denkbar, das bislang nur für den Raum der unmediierten Welt Geltung hatte: der Raum leiblicher Anwesenheit (Böhme 2004). In diesem Raum konstituiert sich über die objektive Ordnung von Dingen an einer gegebenen Örtlichkeit ein Raum, der über die Materialität des objektiven, geometrischen Raumes einen Raum der erfahrbaren Subjektivität aufspannt. Denn nach Böhme beinhaltet der objektive, sich dreidimensional in Höhe, Breite und Tiefe ausdehnende Raum drei weitere subjektive Dimensionen: Handlungs-, Stimmungs- und Wahrnehmungsraum.

Der Handlungsraum ermöglicht und/oder erfordert Bewegung und Handeln, der Stimmungsraum ist die Emotionen auslösende örtliche Atmosphäre und der Wahrnehmungsraum trennt durch sinnliche Eindrücke den eigenen Körper von den Dingen am Ort und unterfüttert den Handlungsraum mit wahrnehmbaren Informationen über den Ort. Durch das Wechselspiel des leiblichen Inneren mit dem leiblichen Äußeren erfährt ein Mensch an einer jeden gegebenen Örtlichkeit die eigene subjektive Existenz. Über die bisher größtmögliche Annäherung der Erfahrungsmodi in der fiktiven Welt an die menschlichen Erfahrungsmodi in der Außenwelt, erzeugen First-Person-Spiele die bislang nächste Nähe der Spieler/innen zur Spielwelt, da neben dem objektiven, euklidischen auch der subjektive Raum leiblicher Anwesenheit simuliert wird.

Stellt sich überdies das Gefühl der scheinbaren Anwesenheit in der fiktionalen Welt ein – in der Regel als Immersion bezeichnet –, wird die nicht-fiktive Außenwelt ausgeblendet. Erhält allerdings der reelle Raum keine Aufmerksamkeit mehr durch die Spieler/innen aufgrund deren Konzentration auf das Spiel, erleben die Spieler/innen nichtsdestotrotz Handlungs-, Wahrnehmungs- und Stimmungsraum. Folglich muss diese Raumerfahrung durch den virtuellen Raum des Spiels erzeugt werden. Die Virtualität des Spielraums lässt sich jedoch nur durch den Abgleich mit der Realität bestimmen, die allerdings, wie oben erwähnt, während der Dauer der gefühlten Anwesenheit in der Spielwelt ausgeblendet ist und für diesen Abgleich nicht zur Verfügung steht. Für die Spieler/innen wird damit Virtualität kurzzeitig Realität.


Schlussgedanken

Nach Espen Aarseth (2001: 303) sind Computerspiele durch Räumlichkeit definiert, weswegen die Darstellung von Raum zentral für Computerspiele sei. Die subjektive Raumdarstellung im Computerspiel führt Günzel (2012c: 53ff.) wiederum dazu, lediglich subjektiviert perspektivierte Spiele als einzig originäre Computerspiele zu betrachten. Verbindet man Aarseth und Günzel und lässt das zuvor genannte Potenzial von Computerspielen einfließen, so ließe sich das Wesen von Computerspielen darin entdecken, dass sie den Spieler/innen die eigene leibliche Anwesenheit im Raum erfahrbar machen. Denn wenn durch das vermeintliche Eintauchen in die Spielwelt und damit das phasenweise Ausblenden der Außenwelt in das Erleben von Virtuellem als Reellem mündet, wird das Abbild architektonischen Raums im Speziellen und der Spielwelt im Allgemeinen zu einem Weltmodell im Maßstab 1:1 – also einem begehbaren Modell, das die Spieler/innen nicht ausschließt, sondern umspannt und einschließt.


Literatur

Aarseth, E. (2001). Allegorien des Raums: Räumlichkeit in Computerspielen. In: Zeitschrift für Semiotik, Band 23 (3-4), S. 301-318.

Böhme, G. (2004). Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung. In: Sybille Krämer (Hrsg.): Performativität und Medialität. München: Fink, S. 129-140.

Garncarz, J. (2012). The European Fairground Cinema. (Re)defining and (Re)contextualizing the „Cinema of Attractions“. In: André Gaudreault, Nicolas Dulac & Santiago Hidalgo (Hrsg.): A Companion to Early Cinema. Chicester: Willey-Blackwell, S. 317-333.

Grau, O. (2001). Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart: visuelle Strategien. Berlin: Reimer.

Günzel, S. (2012a). Einleitung. In: Jörg Dünne & Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 19-43.

Günzel, S. (2012b). Raum – Bild: Zur Logik des Medialen. Berlin: Kadmos.

Günzel, S. (2012c). Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels. Frankfurt am Main: Campus.

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Über Martin Janda

Martin Janda begann seine Zockerkarriere auf dem C64, er kannte sogenannte Retrogames also schon, als sie noch „state of the art“ waren – daher ist er vermutlich selbst als „retro“ zu bezeichnen. Zu sehr mit Spielen beschäftigt, brach er erfolgreich das Gymnasium ab und kam damit einem Rauswurf zuvor. In der Folge tingelte er mal als Zivi, mal als unterbezahlter Jobber umher, wobei er auch Zwischenstation bei Nintendo als Spieletester machte. Hier durfte er noch vor dem Rest der Menschheit einen ersten Blick auf die Wii werfen, was ihn noch heute übertrieben stolz macht. Mittlerweile studiert er Psychologie (um sich selbst zu therapieren natürlich) und Medienwissenschaft (um klug zu wirken).