Buchrezension: Storytelling in virtuellen Welten

Das Geschichtenerzählen in digitalen Spielen ist ein Thema, dem man sich wissenschaftlich ganz unterschiedlich annähern kann. Eine aktuell recht populäre Möglichkeit ist die intermediale Annäherung, um das Potential interaktiver Erzählung greifbar zu machen. Diesem Ansatz widmet sich auch David Lochner, der mit seinem 2014 erschienenen Buch Storytelling in virtuellen Welten einen Ein- und Überblick zum virtuellen Erzählen liefert. Die folgende Rezension des Buches findet mit herzlichem Dank an die Redaktion der Zeitschrift MEDIENwissenschaft: Rezensionen | Reviews nun auch ihren Weg auf diese Seite.


Anmerkung: Die folgende Rezension ist zuerst erschienen in der Zeitschrift MEDIENwissenschaft: Rezensionen | Reviews, Ausgabe 1/2015, S. 127-129.

Interaktivität – so lautet die These des Autors David Lochner – ist eine Form des Erzählens, die aktuell „in vielen medialen Bereichen Einzug hält“ (S.9). Teils wiederentdeckt oder neu entwickelt und vorangetrieben durch das Medium digitaler Spiele werden klassische Erzählweisen stets aufs Neue umstrukturiert und ausprobiert, sodass bereits unter Rezipient_innen, Journalist_innen und auch Wissenschaftler_innen rege Diskussionen geführt werden, was eigentlich noch Spiel oder schon Film sei. Im vorliegenden Band verstehen sich auch die titelgebenden ‚virtuellen Welten‘ als transmediales Phänomen auf der Basis digitaler Animationstechnik. Welche Potenziale und Möglichkeiten des Erzählens damit einhergehen, stellt David Lochner in diesem Buch dar und richtet sich dabei ausdrücklich an „Autoren und Produzenten“ (Klappentext).

Inhaltlich werden im ersten Kapitel die Grundlagen für die darauf folgenden Betrachtungen dargelegt. So unterteilt der Autor die erzählerischen Eigenschaften von Medien in zwei Bereiche: das lineare und das interaktive Erzählen (vgl. S.21). Daraus leitet er als Betrachtungsspektrum seines Buches die drei Themenbereiche Animationsfilm, digitales Spiel und ‚interaktiver Film‘ ab. Die drei folgenden Hauptkapitel zu diesen Bereichen gliedern sich dabei stets klar strukturiert in eine Erläuterung der Medien- und Gattungsspezifika, eine Darstellung der erzählerischen Anforderungen und Möglichkeiten sowie in ausführliche Beispielbetrachtungen zu Animationsfilm-Drehbuch und ‚Game Script‘. Das letzte Kapitel „Kritische Hinterfragung – Der Blick hinter die Kulissen“ (vgl. S.255-279) versammelt hingegen vier weitgehend unabhängige Essays weiterer Autoren als Perspektiven auf den kulturellen Kontext digitaler Spiele und produktionsseitige Aspekte virtueller Welten, die den Band trotz ihrer thematischen Umorientierung sinnvoll ergänzen.

Den Animationsfilm als Ausgangspunkt der Betrachtung zu nehmen, erweist sich als folgerichtige Annäherung, da die narratologischen Gemeinsamkeiten mit dem ‚Realfilm‘ eine einführende Betrachtung praktischer Kompetenzen (wie das Erstellen eines Exposés oder Charakterprofile von Figuren) und Grundlagen filmischer Erzähltheorie ermöglichen. Der Autor arbeitet auf der Basis technischer Eigenschaften des Mediums Film und stellt mithilfe anschaulicher Beispiele Konzepte des Spannungsaufbaus, der Erzählstruktur und Dramaturgie dar, um schließlich Visualisierungen in Form von „Concept Arts, Fotomontagen oder Storyboards“ (S.133) als essentiellen Bestandteil des Animationsfilm-Drehbuchs hervorzuheben.

Der Medienwechsel erfolgt durch eine fundierte Auseinandersetzung mit der Interaktivität als prägendstem Einfluss auf die Erzählmöglichkeiten digitaler Spiele (vgl. S.143f.). Die Darstellung medienspezifischer Eigenschaften und Möglichkeiten der Spannungserzeugung ist eine sehr gelungene – wenn auch verkürzte – Übersicht, die sich auch Ansätzen wie dem „Spielflow“ (vgl. S.163ff.) widmet. Hervorzuheben sind an dieser Stelle sechs mit Grafiken versehene Erzählmodelle digitaler Spiele, die besonderen Fokus auf die Möglichkeiten der Verbindung strukturierter Erzählweisen und interaktiver Freiheiten legen, sowie das Konzept der ‚dynamischen Interaktivität‘. Letzteres führt in ein spannendes Themenfeld um das digitale Spiel Façade (2005) ein – ein Projekt zur Erstellung einer „künstlichen Intelligenz“, die trotz fast unbeschränkter Texteingabe der Spieler_innen in Interaktion mit zwei virtuellen Figuren eine „möglichst dramatische Handlung“ erzeugen soll (vgl. S.178ff.). Ein 20 Seiten umfassendes Beispielskript und Concept Art aus verschiedenen digitalen Spielen schließen das Kapitel ab.

Die Auswahl des Betrachtungsbereichs gestaltet sich hier jedoch als diskussionswürdig. Ein Simulationsspiel wie The Sims (2000) grundsätzlich von der weiterführenden Analyse auszuschließen, da es „keine ‚traditionell vermittelte Geschichte‘ erzählt“ (S.153), erscheint im Rahmen der Untersuchung interaktiver Erzählweisen etwas kurz gegriffen.

Die im letzten Hauptkapitel betrachtete mediale Genese des ‚interaktiven Films‘ steht, wie der Autor selbst herausstellt, vor großen Definitionsproblemen (vgl. S.219). Dabei bezieht er sich auf eine historische Entwicklung des Begriffs, beginnend bei der Möglichkeit, über Telefonanrufe mit z.B. Live-Sendungen im Fernsehen interagieren zu können, bis hin zu einer Vermischung von Animationsfilm und digitalem Spiel. Diese weiß der Autor über die Beispiele Max Payne 3 (2013) und Heavy Rain (2010) sinnvoll zu illustrieren, problematisiert den Begriff des ‚interaktiven Films‘, der zuvor über weite Strecken des Bandes unhinterfragt genutzt wird, jedoch mehr als ihn zu klären. Aber auch in diesem Kapitel finden sich gelungene Ansätze, wie ein Exkurs in die ‚Virtuelle Szenografie‘ mit einem Gastbeitrag von Tobias Seeger, der eine Unterteilung zur Erschaffung einer authentisch erscheinenden, virtuellen Welt in drei Ebenen vornimmt (vgl. S.226ff.); oder der Abschnitt „Virtual Production“, der insbesondere auf die technischen Möglichkeiten alternativer Erzählweisen in virtuellen Welten eingeht. Diese teils angenehm experimentellen Perspektiven des Autors speisen sich gewinnbringend aus den Projekten der Forschungseinrichtung Gamecast TV der Hochschule Mittweida und gehen dabei durchaus über ein Einführungswerk hinaus.

So lässt sich abschließend feststellen, dass eine Schwäche des Bandes wohl sein Umgang mit wissenschaftlichen Fachtermini ist. Leser_innen müssen sich gewahr sein, dass manche Begriffe und Formulierungen diskussionswürdig sind. Auch unterstützen viele Abbildungen nicht den Inhalt in erläuternder Funktion, sondern vielmehr als beispielhafte Illustrationen. Trotz aller Verkürzung dieses Übersichtswerks beweist David Lochner jedoch weitreichende Kenntnisse, die in Kombination mit dem lobenswerten und regen Einsatz von Beispielen einen gelungenen Einblick in das Themenfeld ermöglichen und nicht zuletzt auch aufgrund zahlreicher Quellen zur Einsicht weiterführender Literatur einladen.


Cover_Lochner_Storytelling_fullNun ist bereits vieles über das Buch gesagt. Abseits der wissenschaftlichen Besprechung möchte ich in diesem Absatz jedoch noch ein höchst persönliches Fazit treffen. David Lochners Storytelling in virtuellen Welten ist abseits der bereits erwähnten Punkte vor allem ein schönes Buch. So unkritisch das auch klingen mag – der Schreibstil ist angenehm verständlich gehalten, gleicht sogar hin und wieder einer ganz eigenen Erzählung und (Bild-)Beispiele veranschaulichen die Intention des Autors, eine Einführung zu schaffen, die Interesse auch während des Lesens erzeugt. Dieses Buch kann sich demnach auch als Lektüre ohne wissenschaftliche Lesart eignen, sollte man Interesse für das Thema haben.

Der Preis von 29,90 Euro für fast 300 Seiten, von denen jedoch einige mit farbigen Bildern versehen sind, hält sich ebenfalls in einem angenehmen Bereich. Zudem bietet die Verlagsseite eine 30-seitige Leseprobe des Buches an, die an dieser Stelle allen Interessierten empfohlen sei.

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Über Alexander Henß

Alexander Henß (ah) studierte den M.A. Medien und kulturelle Praxis an der Philipps-Universität Marburg. Er hat eine ausgeprägte Leidenschaft für Indie Games. Überhaupt schaut er sich aber gerne mal alles an, mag dann auch manches, stellt Thesen auf und sammelt Eindrücke.