Von Einsamkeit, Kindheitserinnerungen und dem Status Quo der Spieleindustrie – Im Interview mit den Machern von Tengami

Das Mobile Game Tengami von Entwickler Nyamyam wird künftig auch auf der WiiU zu spielen sein. Mit der Portierung auf die Nintento-Konsole war das junge Entwickler-Team zu Gast auf der Gamescom in Köln. Wir haben dort mit Jennifer Schneidereit, Mitbegründerin von Nyamyam, über das kleine Spielekunstwerk gesprochen. Dabei konnten wir sowohl thematisch weiterführende Aspekte aus unserem Artikel „Remediation im Videospiel Tengami“ vertiefen, als auch einiges über die Gedanken und Gefühle erfahren, die hinter dem Spiel stecken.

Ihr verbindet bei Tengami mit Buch und Videospiel zwei Medien, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich beschaffen sind. Woher kommt die Idee?

Jennifer Schneidereit: Fast alle Leute die ich getroffen habe, haben als Kind schon mal mit Aufklapp-Büchern gespielt oder welche gelesen. Und ich glaube es gibt da so ein verbindendes Gefühl, dass man denkt ‚Wow, wieso kommt dieses Papier so hervorgefaltet, wenn ich umblättere – wie funktioniert das?’ Das gibt einem das Gefühl, dass das etwas ganz besonderes ist, etwas magisches. Phil (Phil Tossell, Mitbegründer von Nyamyam, Anm. d. A.) und ich haben uns auf Youtube ein Video von Animationsstudenten angesehen, in dem eine kleine Ente durch ein Aufklapp-Buch gelaufen ist. Die Studenten hatten alles wunderbar handanimiert und so kam es, dass wir uns über das Thema unterhalten haben. Aufklapp-Bücher sind ja irgendwo auch Spielzeugbücher, etwas, das wir mit der Kindheit verbinden. Man spielt damit, denn es besitzt auch interaktive Elemente: Man kann Dinge ziehen und schieben. Und da haben wir uns gefragt, warum das eigentlich noch niemand als Spielmechanik genutzt hat und was passiert, wenn wir ein Computerspiel in einem Pop up-Buch ansiedeln. Wir wollten damit experimentieren und schauen, welche Art von Computerspielen man mit Aufklapp-Büchern überhaupt machen kann. Im Endeffekt ist Tengami eigentlich nur ein erster Versuch dessen.

Ihr nehmt in Tengami ja alle Eigenschaften des Mediums Buch auf, und euer Spiel ist ja auch an das Umblättern von Seiten und die lineare Struktur gebunden. Gerade das sorgt aber auch dafür. dass aus einem Buch eine interaktiven Geschichte wird, obwohl es das in seiner Grundform eigentlich nicht ist. Seid ihr bei der Vereinigung von Interaktivität und gleichzeitigem an die Buchseiten gebunden Sein an irgendwelche Grenzen gestoßen?

Das Falten als Spielmechanik sorgt schon dafür, dass man schnell an seine Grenzen stößt bei dem, was man machen kann. Im späteren Verlauf des Spieles haben wir also noch andere Aktivitäten eingefügt, zum Beispiel die Bootsfahrt oder rein Touch-basierte Interaktionen. Für uns kam es darauf an, kein Pop up-Buch zu machen, sondern ein Computerspiel in einem Pop up-Buch. Für mich war es dabei sehr wichtig, dass man sich selbst in dem Buch fortbewegt, dass man eine Präsenz in dem Buch hat, also physikalisch da ist und darin auch Sachen erlebt. Das ist der Gedanke dabei gewesen.

Eure Geschichte ist auch sehr ruhig und besinnlich. Sie hört dort auf, wo sie anfängt. Außerdem zeichnet sich alles sehr durch japanische Schriftzeichen und Ästhetik aus. Ist die Geschichte insgesamt historisch inspiriert, oder woher kommen diese Eigenschaften?

Jennifer Schneidereit, Mitbegründerin von Nyamyam

Jennifer Schneidereit, Mitbegründerin von Nyamyam

Es gibt zwar historische Elemente in den Landschaften, insgesamt spielt die Historie aber keine Rolle. Ein Journalist meinte einmal zu mir, Tengami erschien ihm wie ein sehr einsames Spiel. Er verstehe die Einsamkeit aber nicht als angsteinflößend, sondern mit Hoffnung darauf, dass etwas Schönes kommt. Und das beschreibt auch ein wenig den Gedanken, der dahinter steckt: Ich hab selbst vier Jahre in Tokyo gelebt, und in einer solchen Millionenstadt hat man manchmal das Bedürfnis nach Einsamkeit. Ein Bedürfnis nach einem eigenen Raum, vor allem einem eigenen Gedankenraum. Denn bei so vielen Leuten und der Lautstärke um einen herum ist es schwer, sich zu konzentrieren, sich selbst zu hören und sich selbst zu finden. Ganz viele Japaner haben ebenfalls diesen Wunsch, einmal für fünf Minuten einen Rückzugsort zu haben, in dem alles andere ausgeschaltet ist, in dem ich ich selbst bin und in dem ich mich auf mich selbst konzentrieren kann. Deswegen ist Tengami so gestaltet, dass man allein ist, und dass es diese großen Landschaften gibt, in die hinein, das hoffe ich, die Leute ihre eigenen Gefühle und Gedanken projizieren können. Dass Platz zum Nachdenken, zum Reflektieren ist: ein Platz, in den man sich hinein finden kann. Gleichzeitig ist es ein sicherer Raum, in dem man vor nichts Angst haben muss, sondern der einfach nur wunderschön ist. Im Prinzip kann man ja auch sagen, ‚okay, ich laufe jetzt durch ein schönes Buch’, ohne sich weiter Gedanken zu machen.

Dieses Gefühl wird auch stark über die Musik transportiert. Wie wichtig war es da, die Komposition der Musik schon in den Entwicklungsprozess einzubinden?

Das lief alles gleichzeitig. Der Komponist der Musik ist David Wise. Wir haben das immer so gemacht, dass wir ihm gesagt haben ‚okay, das ist die Idee oder das Setting für das nächste Level und das ist so ungefähr die Geschichte, die erzählt werden soll’. Dazu haben wir ihm Bilder gezeigt, damit er sehen konnte, wie es aussehen wird und haben ihm erklärt, welche Emotionen wir gerne damit vermitteln wollen. Und danach hat er dann komponiert. Wir haben die einzelnen Stücke gleich ins Spiel eingebracht und uns dann wieder zusammen gesetzt, uns das Ergebnis angehört und dann weiter daran gearbeitet, bis es passte.

Viele Elemente, die Druck auf den Spieler ausüben, habt ihr komplett aus dem Spiel heraus genommen. Man kann nicht sterben, man hat Zeit ohne Ende. Habt ihr das alles schon sehr bewusst ausgeklammert, oder war das manchmal einfach notgedrungen?

Das war schon von Anfang an so geplant. Wir wollten den Leuten Zeit geben, so oft und so langsam oder so schnell, wie sie möchten, vor oder zurück zu blättern. So in Sinne von ‚wenn ihr glaubt, es ist Zeit, geht weiter‘. Deswegen wollten wir keine Elemente wie Zeitdruck haben, oder auch wie Scheitern im Sinne von Tod. Natürlich gibt es aber auch den Fall, dass Leute eventuell ein Rätsel nicht lösen können und deswegen nicht weiter kommen.

Ihr seid ja ein noch sehr junges Team, habt eure Firma erst vor vier Jahren gegründet. Was war die Motivation dahinter?

Generell gibt es in der Spieleindustrie eine Entwicklung hin zur kommerziell sicheren Entwicklung von Spielen. Dahingehend ist man kreativ sehr eingeschränkt, da es häufig eben um Zombie-Spiele oder den nächsten Shooter geht. Die Publisher wollen dabei auch kaum mehr irgendwelche Risiken eingehen. Bei mir war das so, dass ich nur fünf Jahre in der Spielebranche gearbeitet habe, bevor ich Indie gegangen bin. Das lag hauptsächlich daran, dass ich den Eindruck hatte, dass ich nichts mehr Neues lernen kann. In den großen Teams ist man sehr spezialisiert und arbeitet nur an einem ganz kleinen Bereich eines Spiels. Und ich wollte mich gern weiter entwickeln, die Herausforderung haben. So ein Spiel wie Tengami  was noch niemand gemacht hat –  mit so etwas wollte ich schauen, was kann ich der Spielebranche geben, was andere noch nicht gemacht haben. Wie können wir als Team die Spieleindustrie weiter bringen. Ähnlich wie in Hollywood ist man stark auf Blockbuster-Spiele fokussiert, die zwar zum größten Teil gut gemachte Spiele sind, aber wegen des Mainstream die gleichen Probleme haben wie das Hollywoodkino. Ich will jetzt zwar nicht anfangen, über Sexismus in der Gesellschaft zu reden, aber alle diese Probleme spiegeln sich auch in den Blockbuster-Filmen wider. So wie zum Beispiel kaum Frauen in Hauptrollen zu finden sind, weil Männer mehr Kinotickets verkaufen. In Computerspielen ist das ja ähnlich, 95% haben einen männlichen Hauptdarsteller, weil gesagt wird, Frauen spielen keine Computerspiele. Obwohl die Statistik sagt, dass das Verhältnis 50/50 ist bei den Geschlechtern. Wir wollten weg von diesem Status Quo. Tengami kommt bei Frauen sehr gut an. Würden wir jetzt bei einem großen Publisher arbeiten, wäre das ein Problem. Da würde direkt das Marketing kommen und sagen ‚euer Spiel ist zwar sehr beliebt bei Frauen, könnte sich aber bei Männern noch besser verkaufen, könnt ihr da nicht mal Sachen ändern’. Wir haben da jetzt keinen Druck mehr. Wir können einfach schöne Spiele machen, die so inklusiv wie möglich sind. Und vielleicht sagen Leute, die Computerspiele bisher noch nicht gut fanden, hinterher dann ‚das ist etwas, worauf ich gewartet habe’.

Ein Interview von Thomas Bendels, Dan Heck und Sabrina Strecker.

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Über Sabrina Strecker

Sabrina Strecker (st) schreibt, seit sie schreiben kann und spielt, seit ihre Hände groß genug sind, um einen Controller zu halten. Beides verbindet sie heute als Freiberuflerin. Mit Hilfe von Hektolitern rabenschwarzen Kaffees bewältigte sie ihr Bachelorstudium der Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg und setzt dieses nun im Master an der Universität Hamburg fort. Mit nicht minder starkem Kaffee-Einsatz. Alles, was sie nebenbei noch an Zeitquäntchen übrig hat, stopft sie in ihre Plattensammlung und Konzertbesuche.