Liebes Internet: Ein offener Brief an ein Medium

Liebes Internet,

Du machst mich oft glücklich und traurig zugleich. Ich verbringe täglich Stunden mit Dir, ertränke meinen Durst nach Information, Kommunikation und Unterhaltung in deinen Quellen. Ich scrolle und klicke, poste und like mich durch deine unbeherrschbare Vielfalt. Ich habe Hoffnung, Zeit und Leidenschaft in Dich investiert. Und manchmal, da nimmt es überhand. Ich muss mich überwinden und Dir einen Brief schreiben.

Seit meiner Kindheit bist Du mein Rückzugsort. Als ich noch unbeholfen und juvenil mit staunenden Augen meine ersten Schritte in Dich wagte, baute ich ein Haus aus deinen Seiten. Du hast mich vom öden Programmfluss des deutschen Fernsehens erlöst, liebes Internet, gabst mir die Möglichkeit, Dinge zu erfahren, die mich wirklich interessierten, zum Beispiel Pornos. Mittlerweile überschüttest Du mich mit Katzen und Memen. Das ist okay – meine Vernunft ist mein Spamfilter.

Und letztlich bist Du natürlich für den Gedanken der Synchronität da. Du stehst für Gleichzeitigkeit und Allgegenwärtigkeit. Wie Gott. Für Gleichgültigkeit und Willkür. Wie Gott. Du stehst vor allem – da bin ich mir sicher! – für eine partizipatorische Kultur, wirst von manchem Idealisten gar als basisdemokratisches Revolutionsmedium verklärt.

Für all das danke ich Dir. Danke für deine schützende Hand in den Stunden der sozialen Isolation. Danke für deine dumm-dreiste Pop Up-Werbung, die meinen Desktop überfällt wie Adolf Hitler Polen. Und danke dafür, dass ich mich in jedem Online-Spiel rückversichern kann, wer alles mit meiner Mutter geschlafen hat und was für eine behinderte Kackschwuchtel ich bin.

(Quelle: design-milk.com)

Du wärst ein fantastisches Medium, liebes Internet, wenn sich nicht immer diese ganzen “Individuen“ in Dir tummelten, diese gesichtslosen Profile. Diese Nicknames und Accounts, diese IP-Schmarotzer. Die erkennen deinen wahren Wert erst, wenn sie googeln, wie viele Dutzend Schlaftabletten man eigentlich nehmen muss für den schmerzfreien Notausstieg. Sie verschmutzen und missbrauchen Dich mit Cyber-Mobbing und Kinderpornos, treten, schlagen, spucken und schreien mit CAPSLOCK in deinen Foren, scheißen Emoticons auf deine Skripte. Das Internet schadet unserer Jugend? – Wohl eher andersrum! Diejenigen, die deine Größe nicht zu begreifen im Stande sind, schütten lachend Gift in das Grundwasser deines Datenflusses und Du schaust einfach zu. Es ist Dir egal, es interessiert deine omnipräsente Unantastbarkeit nicht, welche Inhalte deine W-LAN-Router in Wohnzimmer, Flughäfen und Bäckereien verbreiten. Es ist deine Ohnmacht in der Allmächtigkeit.

Und manchmal, liebes Internet, manchmal brennt dann eine Empörung in meiner Brust, sodass ich wie die Opfer von Sexualstraftaten und deren Angehörigen lauthals die Todesstrafe deiner Schänder fordern möchte. Doch dann mäßige ich mich, möchte nicht Unrecht mit Unrecht vergelten und schlucke den zynischen Kommentar herunter, der so manche Forendiskusson zum Überkochen brächte. Ich möchte präzise sein, differenziert. Ich möchte Dich mit meinen Gedanken bereichern und von Dir lernen, möchte mich streiten und diskutieren. Möchte meinen Horizont um deine unüberschaubare Vielfalt erweitern, mein Haus aus deinen Seiten bauen, so oft es auch in sich zusammenfallen mag. Ich möchte mit Dir, dein technisches Netzwerk an meinem gedanklichen, eine konstruktive Symbiose eingehen und etwas von der Selbstbestimmung kosten, die man mir mit dem Erwachsenwerden versprach.

Ich bin bereit, wenn Du es bist.

Stefan

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Über Stefan Heinrich Simond

Stefan Heinrich Simond (shs) publiziert und unterrichtet im Bereich der Game Studies am Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Er promoviert zur Konstruktion psychischer Krankheiten und psychiatrischer Institutionen in digitalen Spielen, ist Chefredakteur bei pixeldiskurs.de und hostet den wöchentlichen Pixeldiskurs-Podcasts.